Therese Bichsel: Schöne Schifferin
Dass Kinder und Jugendliche im Tourismus arbeiten, ist keineswegs neu. Seit sich die Reise im beginnenden 19. Jahrhundert zu dieser besonderen Form "Touris-mus" entwickelt hat – der Begriff taucht um 1800 in England auf, stammt vom französischen "tour" und bezeichnet eine (Rund)Reise zum Vergnügen, in der "freien" Zeit – sind Kinder im Umgang mit den Reisenden und in Tätigkeiten rund um den Fremdenverkehr vorzufinden. Reiseberichte aus der Zeit legen beredtes Zeugnis von den zerlumpten Bettelkindern am Wegrand ab. Wie der Umgang mit den Fremden aus der Sicht eines jungen Mädchens aussieht, erzählt der Roman über die schöne Elisabeth Grossmann, die wie ihre Spielgefährtinnen bereits ab dem zarten Alten von zwölf Jahren die noble Kundschaft aus dem Unterland – Deutsche, Engländer, Welsche, Franzosen und gar Russische Prinzessinnen – über den Brienzersee ruderte. Sicher, die Mutter war dabei, sofern die Arbeit im Haushalt es ihr erlaubte. Das Rudern für die Fremden lieferte ein willkommenes Zubrot, bisweilen gar das einzige Geld. Den Charme des Urlaubs für die jungen Adeligen, die sich das Reisen in die wilde Bergwelt damals leisten konnten, machten indessen eindeutig die jungen Mädchen mit ihrem "Rosenteint" aus, die sie vor dem eindrücklichen Panorama der Alpen über den See ruderten zu den Giessbachfällen, den Gestaden mit den Alpenrosen, dem abendlichen Tanz im Dorf. Einheimische Sitten wie der "Kiltgang" beflügelten die Phantasie der männlichen Reisenden ungemein; dass Mädchen ihre Liebsten vor der Heirat in der Schlafkammer empfingen, hielt sogar Casanova in seinen Memoiren fest. Vom ursprünglichen Landleben der damals armen und als rückständig betrachteten BerneroberländerInnen muss in der Frühzeit des Tourismus für die fremden BesucherInnen eine Faszination ausgegangen sein, wie sie der Exotismus der Südsee auf die reichen Menschen in den Industrieländern heute ausübt. Als Höhe-punkt jeder Molkenkur – die süsse Molke war wie der Gipfelsturm obligater Bestandteil einer Bergfahrt – galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sich von der schönen Schifferin Elisabeth rudern zu lassen. "La reine des bâtelières" festigte die frivole Legende der "Schönen Brienzerin"; berühmte Maler der Zeit versuchten, ihre Schönheit in idyllischen Bildern einzufangen, ihr Schicksal lieferte gar den Stoff für ein Vaudeville-Theaterstück in Paris. Die Geschichte von Elisabeth, wie sie von der Autorin Therese Bichsel erzählt wird, zeugt viel weniger von Frivolität als von der harten Existenz einer jungen Frau: Als junges Mädchen wurde sie von einem wohltätigen Baron zur Erziehung in die Stadt Bern geschickt, wo sie gute Manieren lernte, die ihr in ihrer Heimat wenig nützten. Zurück in Brienz als Schifferin wird sie von einem vielversprechenden Pfarrers-sohn aus Neuenburg umschwärmt; letztlich muss sie aber ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben als Frau Professor im Unterland aufgeben und sich in einer unglücklichen Ehe mit einem Oberländer Wirt mit der Last der Erziehung ihrer Kinder allein schlagen. Der Roman mag stellenweise etwas ergreifend ausfallen; die Geschichte von Elisabeth Grossmann aber beeindruckt, nicht zuletzt aufgrund der minutiös recherchierten und dokumentierten Begebenheiten. Bestechend an dem Buch ist der Versuch, das Leben aus der Sicht einer Frau zu verstehen, die anfangs des 19. Jahrhunderts als junges Mädchen im Fremdenverkehr tätig ist und sich in diesem für Tourismus typischen Gefälle zwischen arm und reich einen eigenen Weg sucht. Man liest das Buch und wünscht sich, es gäbe viele solche Romane aus der Perspektive von jungen Menschen, die im Tourismus heute ihren Weg suchen.
Zytglogge, Bern 1997, 236 Seiten, SFr. 39.-,ISBN 3-7296-0558-5