Wenn es um Natur- und Artenschutz geht, hat das Meer bei uns schlechte Karten. Denn die Anzeichen dafür, dass dieses komplexe Ökosystem gefährdet ist, sind nur selten sichtbar. Und von daher in ihrer Bedeutung auch nur schwer zu vermitteln. Ab und zu stranden irgendwo auf der Welt Wale oder Delfine, dann bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, wie tiefgreifend die Schäden sind, die durch unseren Umgang mit den Meeren verursacht werden. Schrecklich, wenn man sieht, wie hilflos diese wunderbaren Tiere dem Ersticken ausgeliefert sind. Aber Gott sei Dank fängt die Fernseh- oder Smartphone-Kamera auf eine Gruppe Menschen, die gegen den Tod der Tiere ankämpfen, sie mit vereinten Kräften ins Meer zurückschaffen, wo sie unter Wasser verschwinden – und mit ihnen unser Bewusstsein für die Dringlichkeit der Problematik.
Das Meer hat ein langes Gedächtnis. Die Konsequenzen unserer Eingriffe in seine Zusammenhänge sind mit blossem Auge gar nicht oder erst sehr spät sichtbar. Wir können schliesslich weiter an Stränden unsere Ferien verbringen, die frühmorgens durch das Hotelpersonal vom zivilisatorischen Unrat gereinigt wurden. Dass wir in einem Meer schwimmen, das als Müllhalde missbraucht wird, ja, die Bilder haben wir sicher alle schon gesehen von dem Müll- und Plastikteppich, der irgendwo da draussen schwimmt und wir haben davon gehört, dass trotz Verbot immer noch Dünnsäure, Schwerölrückstände und Atommüll ins Meer gelassen wird, schrecklich, nein wirklich, und die armen ölverschmierten Vögel, furchtbar. Aber solange es noch Fische gibt und der Sandstrand vor dem Hotel piccobello ist, kanns so schlimm insgesamt ja auch wieder nicht sein. Nur: Dass das Leben der Meeresbewohner durch den vom Menschen verursachten Lärm mindestens genauso bedroht ist, bleibt uns am Strand verborgen (die Lärmverschmutzung des Meeres hat sich in den vergangen 60 Jahren in jedem Jahrzehnt verdoppelt!). Wie schlimm es tatsächlich ist, das werden wir als Letzte merken, denn der Mensch steht am Ende der globalen Nahrungskette. Meist ist es dann auch schon zu spät, sind die Schäden nicht oder nur sehr schwer reparabel. (Die Broschüre "Im Lärm ertrinken" gibt einen Überblick über Ursache und Wirkung der Lärmverschmutzung der Meere, und darüber, was zu tun ist.)
Es muss also darum gehen, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Eine der Organisationen, die sich dafür einsetzt, ist OceanCare. Seit 25 Jahren existiert diese Schweizer Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich dem weltweiten Schutz der Meeressäuger und Ozeane verschrieben hat. Hierfür kooperiert sie rund um den Globus mit führenden Wissenschaftlern in Schutzprojekten und bringt die Forschungsresultate in alle wichtigen internationalen Gremien ein. Mitbegründerin und seit 1993 Präsidentin ist die St. Gallerin Sigrid Lüber. Die Anerkennung, die OceanCare weltweit geniesst, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass ihre Präsidentin in den internationalen Gremien eine gefragte Expertin ist: Als einzige Beobachterin einer Schweizer NGO nimmt sie seit 1992 an Konferenzen der Internationalen Walfangkommission (IWC) teil; seit 1997 ist sie Beobachterin beim Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES); seit 2004 ist sie in allen für das Seerecht relevanten UN-Gremien aktiv. Und seit 2011 hat OceanCare den Status einer UN-Sonderberaterin für den Meeresschutz. OceanCare hat die Bedrohung der Meeresbewohner durch von Menschen verursachten Lärm bereits früh erkannt und 2002 die Kampagne Silent Oceans gegen Unterwasserlärm lanciert, die heute von 19 internationalen NGOs mitgetragen wird. Doch die Gegner dieser Kampagne sind finanzstark und beanspruchen für sich, im Interesse des globalen wirtschaftlichen Wachstums zu handeln – in Zeiten grosser Zukunftsunsicherheit ein stärkeres Argument denn je. Und dieses Wachstum benötigt Öl oder Gas.
Seit wir wissen, dass die Rohstoffvorkommen auf dem Festland endlich sind, sind die Meere noch stärker in den Fokus der globalen Industrien und einzelnen Nationen geraten. Die Energielieferanten Öl- und Gas sind hier von besonderem Interesse. Um festzustellen, wo sie vorkommen, werden seismische Druckluftkanonen eingesetzt. Mit verheerenden Folgen für die Unterwasserwelt der Meere, um das zu wissen muss man keine Meeressbiologin sein. Es reicht die Funktionsweise dieser Kanonen zu kennen: Luft wird mit hohem Druck Richtung Meeresboden ins Wasser gejagt. Der dabei entstehende Explosionsschall von 260 Dezibel (was der doppelten "Lärmmenge" eines Düsenjägers entspricht) durchdringt das Meereswasser auf eine Länge bis zu 3000 Kilometern, bevor er bis hundert Kilometer weit in den Boden eindringt. Bis zu 20 Kanonen werden gleichzeitig abgefeuert. Jede von ihnen generiert alle 10 Sekunden diese 2fache Düsenjäger-Schallemission und dies 24 Stunden pro Tag, oft über Wochen im selben Gebiet. Mit Hydrophonen wird das Echo abgehört und ausgewertet. Dieses Verfahren ist für viele Meeresbewohner eine tödliche Bedrohung, allen voran für Delfine, Wale und kommerziell genutzte Fischarten.
Aktuell weckt das Öl- und Gasvorkommen vor den Balearen das Begehren u.a. der britischen Ölfirma Cairns Energy. Bei dem von den Druckluftkanonen bedrohten Gebiet handelt es sich um äusserst fragile Ökosysteme, die zahlreiche Schutzgebiete beinhalten. Kommt hinzu, dass es durchaus umweltschonendere Alternativen zu dieser verheerenden Sondierungstechnik gäbe. Doch die Ölfirmen weigern sich, hierfür Geld auszugeben. Im Fall der Balearen dürften die Auswirkungen für einmal auch nicht an den Touristen auf den sauberen Stränden sang- und klanglos vorübergehen. Besonders betroffen von den Auswirkungen der Ölerschliessung würden Ibiza und Mallorca sein.
Es mag zynisch klingen, aber vielleicht ist es auch eine Chance, dass mit diesen beiden Inseln touristische Hotspots betroffen sind und nicht zwei "No-Name-Inseln" irgendwo in den Weiten des Ozeans. Denn so kann man sich wenigsten der Aufmerksamkeit zweier Gruppierungen sicher sein: der Touristen (aus Angst um ihr Urlaubsparadies) und der spanischen Tourismusindustrie (aus Angst vor ausbleibenden Touristen, lies: Einnahmen). Und OceanCare ist es gemeinsam mit AVAAZ – der 37 Millionen Mitglieder zählenden globalen Bürgerbewegung – gelungen, dem Tourismusmekka Spanien bewusst zu machen, dass seine Angst begründet ist: Eine von 150 000 Protestunterschriften aus dem deutschsprachigen Raum getragene Petition übergaben Delegierte beider Organisationen Anfang August an hochrangige Vertreter des spanischen Umweltministeriums. Inhalt der Petition: die Forderung, der Suche nach Ölressourcen in den fragilen Gewässern vor den Balearen eine Absage zu erteilen. Die Organisationen unterstützen mit der Aktion die von der lokalen Bevölkerung ausgehende Protestbewegung "Allianza Mar Blava".