Leben im Transit
    Auf den Kanarischen Inseln konnte man im letzten Jahr beobachten, wie zwei Welten aufeinanderprallen. In den Häfen kamen Boote mit geretteten Flüchtlingen aus dem Senegal oder aus Mauretanien an. Die Touristinnen schauten neugierig zu, wie man die Afrikaner in Empfang nahm, aber die Polizei schirmte sie rasch ab und brachte sie weg. Das Ferienparadies sollte nicht vom Anblick der Armutsflüchtlinge gestört werden.
    Dass die beiden Welten aber sehr viel mehr miteinander zu tun haben, als es bei solchen zufälligen Berührungen scheinen mag, belegt die Studie «Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung von Migranten und Touristen». Bei einem Aufenthalt im ehemaligen Jugoslawien war den beiden Autoren, dem Kulturwissenschaftler Tom Holert und dem Migrationsforscher Mark Terkessidis, der Funktionswandel von Hotels in Kriegszeiten aufgefallen: Aus Ferienorten wurden sie zu Kasernen, Vertriebenenheimen oder Flüchtlingslagern. Ein grosses Hotel in Pale wurde sogar Regierungssitz. Um das Phänomen genauer zu untersuchen, bereisten Holert und Terkessidis die Ränder Europas, wo neue Landschaften entstanden sind: provisorische Orte des Übergangs und des temporären Aufenthalts.
    Der äussere Augenschein ergibt erst einmal eine verblüffende Übereinstimmung der Architektur von Tourismus und Migration. Von Campingplätzen und Zeltlagern über Container- und Bungalowdörfer bis hin zu den gesichtslosen Hochhäusern, die sowohl Hotels als auch Flüchtlingsheime sein können. Das allein wäre noch nicht so verwunderlich: Wenn in kurzer Zeit viele Menschen untergebracht werden müssen, ist Funktionalität notwendig. Interessanter ist die historische Dimension. An der französischen Mittelmeerküste entstand die erste grosse Anlage für Touristinnen genau dort, wo 1939 Tausende von spanischen Flüchtlingen untergebracht wurden und später die «piedsnoirs», ehemalige französische Siedler aus Algerien, campierten. Umgekehrt ist die Architektur der Kolonien oft Vorbild für Ferienzentren, die durch ihren Festungscharakter auffallen. Und viele Feriengebiete sind nicht zufällig in ehemaligen Kolonien entstanden; man konnte die Infrastruktur übernehmen, die das Militär für seine Zwecke errichtet hatte.
    Permanentes Provisorium
    Auf eine weitere historische Verknüpfung weist der in Köln lebende deutsch-griechische Secondo Mark Terkessidis hin: «In den fünfziger Jahren sind sich die Migranten und die Touristen buchstäblich begegnet, zum Beispiel auf dem Hauptbahnhof in München. Da fuhren die Touristen nach Italien ab, dem ersten Reiseland der Deutschen nach dem Krieg, und gleichzeitig kamen dort die ersten angeworbenen Migranten aus Italien an, allerdings auf einem unterirdischen Bahnsteig. Genauso verhielt es sich später mit Spanien, Griechenland und dann mit der Türkei.»
    Wie sehr der Tourismus die Länder rund ums Mittelmeer verändert hat, ist zwar bekannt, aber die gesellschaftlichen Auswirkungen wurden bisher kaum untersucht. Obwohl etwa die spanische Mittelmeerküste längst zubetoniert ist, hört man mit Bauen nicht auf, denn viele verdienen daran, und manche waschen damit Geld. Weil der Tourismus den Gemeinden mittlerweile an Steuereinnahmen weniger einbringt, als sie für die Erhaltung der Infrastrukturen aufbringen müssen, verkaufen sie weiter Baugenehmigungen. Was die Autoren aber besonders interessiert, ist die Entfremdung der Menschen an diesen Nichtorten. Die Einheimischen verwandeln sich in ein Volk von Dienstleistern für jene, die hier den Ausnahmezustand vom Alltag leben wollen. Dazu kommen an der Costa del Sol die afrikanischen Migranten, die – oft illegal – in der Landwirtschaft arbeiten und in Häuserruinen und Slums neben den Plantagen hausen. Nicht weit entfernt von den Feriensiedlungen, in denen der Leerstand immer grösser wird. So leben also drei Bevölkerungsschichten getrennt voneinander an einem Ort, der nicht der ihre ist, in einer Art permanentem Provisorium.
    Es gibt aber auch Übergänge, erzählt Mark Terkessidis: «In Gran Canaria hat der Tourismus, der andauernd Überschüsse und damit Leerstand produziert, mittlerweile Hotels in Randlage verfallen lassen, in denen jetzt auch Migranten wohnen. Vielleicht verirren sich noch ein paar Touristen dorthin, die etwas besonders Billiges suchen, aber an den Telefonläden im Parterre sieht man, dass diese Hotels von Migranten bewohnt werden.»
    Zu Hause in den Ferien
    Die Migrantinnen strömen nach Norden, die Touristen nach Süden, so war es bisher. Jetzt aber kommt eine neue Bewegung dazu: die Rückkehr. «Fliehkraft» analysiert auch die Rückwirkung der Migration auf die jeweiligen Heimatländer. Da ist zum einen der finanzielle Transfer der «Gastarbeiter», der in vielen Ländern beträchtlich zum Bruttosozialprodukt beiträgt. Zum andern wird diese Rückinvestition auch sichtbar in der Architektur, denn Migranten bauen sich in ihrer Heimat Häuser oder kaufen sich Wohnungen. Mittlerweile sind in Marokko, Portugal oder der Türkei Siedlungen entstanden, die sich von den Feriensiedlungen äusserlich nicht unterscheiden und die auch hauptsächlich als solche genutzt werden. Denn die Migrantinnen kommen nur im Sommer in ihre Heimat zurück, die aber keine Heimat mehr ist. Von den familiären Banden abgesehen, werden sie wie westliche Touristen angesehen: Es sind die Reichen, die nur wenige Wochen im Land sind und an denen man so viel wie möglich verdienen will.
    «Touristische Intimität» nennen die Autoren einen derart neu entstandenen Raum, wenn Migranten in ihr Ursprungsland in die Ferien fahren. Mark Terkessidis kennt es von seinen Ferien in Griechenland: Bei seinen Verwandten fühlt er sich zu Hause, in der Umgebung jedoch als Tourist. Ebenso undefiniert sind Rückkehrer, die im Alter ganz in ihr Heimatland ziehen, dort jedoch in Feriensiedlungen wohnen, Tür an Tür mit den «Residents», den Langzeittouristinnen im Ruhestand. Mit ihnen verstehen sich die Rückkehrer oft sehr gut, schliesslich sprechen sie auch ihre Sprache, was für die oft ausschliesslich des Deutschen/Holländischen/Englischen mächtigen Pensionäre eine grosse Hilfe ist. Sie verstehen sich aber auch, weil sie in einer ähnlichen Lebenssituation sind. Ironisch skizzieren Holert und Terkessidis die Position der Residentinnen als Urlaubsmigranten, die zwar im Süden leben (oft als «Papierlose», weil sie sich nicht um eine Aufenthaltserlaubnis kümmern!), die aber geistig in ihren Herkunftsländern verwurzelt sind. Sie schaffen sich Netzwerke mit eigenen Treffpunkten, Läden, Restaurants und Zeitungen, leben also in einer «Parallelgesellschaft». So wie es vielleicht vorher die Migrantinnen, die nun als Rückkehrer etwas fremd in ihrer Heimat leben, in ihren Arbeitsländern getan haben.
    Entpolitisierte Städte
    Für den Einzelnen kann es als Verlust von Heimat erfahren werden, wenn er an einem Ort ohne persönliche Vergangenheit lebt. Gesellschaftlich ist es ein Verlust von Politikfähigkeit. So wenig wie die «Gastarbeiter» in den Ländern des Nordens zu den Wahlen  gehen (dürfen), so wenig kümmern sich die Residenten um die Politik ihres Gastlandes. So leben sie beide in einem Zwischenreich ohne Vergangenheit und Zukunft, vor allem aber auch ohne gesellschaftliches Miteinander. Feriensiedlungen sind Orte ohne Bürger. Holert und Terkessidis sehen diese Entwicklung auch in den Städten Europas Einzug halten. Sichtbar machen sie den Prozess am Phänomen der Stadtstrände, wie sie in Paris und Berlin Furore machten und mittlerweile in vielen Städten im Sommer eingerichtet werden. Diese «deplatzierten Strände» fordern dazu auf, die eigene Stadt als Tourist zu erleben. 
    Auf der anderen Seite ermöglichen uns die Billigfluglinien, unentwegt als  Touristinnen in anderen Städten unterwegs zu sein. Für diese Kurzurlauber richten die Städte wiederum ihre Citys her. Die Stadt als «tourist city» ist jedoch kein Ort mehr für ihre Bürger. Diese wohnen ausserhalb des Zentrums, besuchen dieses wie Einkaufstouristen oder bieten dort ihre Waren und Dienstleistungen an wobei es wiederum Migrantinnen sind, die unsichtbar in den Küchen, Kellern und Lagern der Gastronomie arbeiten.
    Städte sind Orte für «Shopping Tourism» geworden. Aber dieser Begriff meint nicht nur, dass man im Advent zum Einkaufen nach New York fliegt. Er bezeichnet auch ein Phänomen der Migration, nämlich Kofferhändler, die mit ihren Waren im Zug durch halb Osteuropa fahren, um sie an bestimmten Basaren und zu bestimmten Zeitpunkten unter die Leute zubringen. Schleuser betreiben «Reisebüros», wo die Migranten Visa und Tickets kaufen können. Auch sie benutzen Züge, Busse und Hotels. Auf vielfältige Weise gehen also Tourismus und Migration ineinander über, und die Konsequenzen sind drastischer, als es den um die nationale Identität besorgten Politikerinnen bewusst ist.
    Holert und Terkessidis fordern dar um ein Umdenken: Wer in Migranten nur Fälle für die Fürsorge sieht, verkennt eine Vielzahl von neuen Lebensweisen und deren gesellschaftsverändernde Kraft. Und um die schleichende Verwandlung grosser Teile Europas in Orte eines Zwischenreichs ohne Vergangenheit und Zukunft,  ohne ein gesellschaftliches Miteinander zu verhindern, gilt es, den Menschen die Partizipation dort zu ermöglichen, wo sie leben ob vorübergehend oder nicht.
    Abdruck mit freundlicher Genehmigung Die Wochenzeitung Nr. 3, 18. Januar 2007
    Tom Holert, Mark Terkessidis: «Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen». Kiepenheuer & Witsch. Köln 2006. 286 Seiten. SFr. 16.50. Euro 8.95, ISBN 3 462-03743-9