Gloria* besitzt zwei Mühlen um Tortillamehl zu mahlen, doch die eine funktioniert mehr schlecht als recht. Ständig rutscht sie aus der Halterung, so dass man nur noch mit einer Hand kurbeln kann, während die andere das Gerät fixiert. Doch eine neue Mühle zu kaufen, liegt derzeit nicht drin. Glorias Familie fehlt das Geld dazu. Bei dem Überfall auf ihr Dorf im vergangenen Februar war Glorias Sohn von einer Kugel am Fuss getroffen worden. Aus Angst vor einem neuen Angriff habe sich ihre Familie danach wochenlang nicht mehr auf ihr Feld gewagt, das ausgangs des Dorfes ganz in der Nähe der Priístas liegt. "Wir blieben in unseren Häusern, verloren unsere Ernte und hatten Hunger", erzählt Gloria.

Das Geld fehlt aber nicht nur, weil die Familie dieses Jahr noch nicht viel geerntet hat. Gloria hat in den vergangenen Monaten auch weniger Ware verkauft, weil sie sich nicht mehr alleine bis an die Strasse traut. Die halbe Stunde Fussmarsch führt am Land der Priístas vorbei, und diese haben mit weiteren Übergriffen gedroht. Nicht nur Glorias Familie fehlt es am Nötigsten, die Armut ist hier allgegenwärtig. Viele Kinder tragen zerlumpte T-Shirts und zerschlissene Hosen. Bei einigen sind die Nähte im Schritt offen, sodass man ihren blanken Po sieht. Anderen schwirren Mücken um den Kopf, setzen sich auf Nase, Mund und in die Augen. Zwei Mal pro Tag baden sie mit ihren Müttern oder Schwestern im Fluss – aber ohne genügend Kleider zum Wechseln, ohne Fliesen auf dem Boden und vor allem ohne fliessendes Wasser im Haus sehen sie nach einer Weile wieder aus wie zuvor.

Wasser holen die Frauen mehrmals pro Tag rund 700 Meter ausserhalb des Dorfes. Am Ufer des Flusses fliesst das (Trink-)Wasser aus einem Erdloch in ein lehmiges Becken. Mit Petflaschen schöpfen die Frauen das Wasser in grosse Kübel. Einige giessen es durch ein Stofftuch, um es zumindest vom grössten Dreck und den Mückenlarven, die auf der Wasseroberfläche schwimmen, zu säubern (wir geben zusätzlich ein paar Tropfen Mycrodyn bei, die alles andere auch noch abtöten). Schliesslich hängen sich die Frauen die 20-Liter-Behälter mit einem Stoffgürtel um die Stirn und tragen das Wasser nach vorne gebeugt die 700 Meter zurück zu ihren Häusern.

Auch wir BeobachterInnen leben entsprechend einfach, schlafen auf Holzbetten unter ein paar Zeltplanen. Dennoch ist die Kluft zwischen uns und den Einheimischen manchmal riesig. Das Camp ist allen zugänglich, die Kinder sind ständig bei uns, von morgens früh bis abends spät. Sie begutachten den Berg Nahrungsmittel, den wir für zwei Wochen angeschleppt haben. Sie schauen uns beim Essen zu, wie wir uns ein zweites Mal schöpfen, weil wir zu viel gekocht haben. Sie hantieren mit unseren Taschenlampen, Sackmessern, Haarbürsten und Kameras…

Wir geben uns alle Mühe, die Regeln des Menschenrechtszentrum Frayba strikt zu befolgen: Keine Geschenke, niemand wird bevorzugt. Doch es ist schwierig, sich "korrekt" zu verhalten, ohne überheblich zu wirken. "Regeln sind gut, doch in einigen Situationen taugen sie einfach nicht", sagt Carlos, ein Beobachter. Gloria hat ihm beispielsweise Tortillas gebracht und ihn gleichzeitig um zwei Limetten gebeten. Unter anderen Umständen würde jeder von uns der Frau die Limetten schenken. Doch hier herrschen andere Bedingungen: Jede Familie im Dorf würde sich über eine Limette freuen. Bevorzugen wir eine Familie, so kann dies zu Missgunst in der Gemeinschaft führen. Und schliesslich muss die Nahrung auch für uns ausreichen. "Aber erklär› das mal deinem Gegenüber im Moment, in dem du dankend die Tortillas entgegennimmst", sagt Carlos.
*In der Schweiz werden die MenschenrechtsbeobachterInnen in Chiapas von Peace Watch Switzerland (PWS) ausgebildet und begleitet. Für fairunterwegs.org berichten sie im Blog  ab April laufend von ihren Erfahrungen.