Tourismusforschung entdeckt die «Gender» Frage
Dem "Normalfall Mann" (weiss, westlich, Mittelstand) als Standardobjekt der gängigen Tourismusforschung ist der Kampf angesagt: Gleich zwei neue Publikationen aus dem englischsprachigen Raum gehen erstmals ausschliesslich der "Gender" Frage, der Analyse entlang der Frage nach dem sozialen Geschlecht, nach Stellung und Rollen von Frauen und Männern in der Gesellschaft nach. Formal präsentieren sich beide Werke ähnlich als Sammelbände von unterschiedlichen, meist von Frauen erarbeiteten Fallstudien, versehen mit einem Einführungskapitel, das den theoretischen Rahmen der "Gender" Frage im Tourismus abstecken soll. Dieser Anspruch wird allerdings unterschiedlich eingelöst. Kinnaird/Hall, beide unterrichten Geographie und Entwicklung an der englischen Universität von Sunderland, unterlassen es kurioserweise in ihrer Einleitung, ihr Verständnis und ihre Verwendung von "Gender" näher zu definieren und verweisen auch in der Bibliographie nicht weiter auf die "Gender" Debatte. Damit gelingt es ihnen nicht, die ineinandergreifenden Dimensionen von der transnationalen Unternehmensstrategie bis zur individuellen Wahrnehmung in der komplexen Tourismusanalyse zu erfassen, und der Bezugsrahmen für die acht Fallbeispiele bleibt eigentümlich brüchig. Erst einzelne Fallstudien liefern wichtige theoretische Ergänzungen anhand konkreter Untersuchungen nach. Im Gegensatz dazu erläutert die amerikanische Anthropologin Swain, Herausgeberin des Sonderbandes der renommierten "Annals of Tourism Research", verschiedene Auslegungen und Verwendungen von "Gender" anhand einer kritischen Besprechung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der (feministischen) Tourismusforschung und Freizeitsoziologie. Ähnlich wie in der Publikation von Kinnaird/Hall fallen auch die zwölf Fallbeispiele der "Annals" unterschiedlich aus. Doch Swains sorgfältig erarbeiteter Konzeptrahmen ermöglicht, wichtige Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen herauszugreifen und zu verknüpfen, und lässt gleichzeitig verschiedene Lesearten zu. So können touristische Aktivitäten vorab auf geschlechtsspezifische Auswirkungen überprüft werden, zum Beispiel in der sehr aufschlussreichen Untersuchung des Agrotourismus in zwei von der EU Landwirtschaftspolitik gebeutelten Regionen Spaniens. Andererseits führt die geschlechtsspezifische Analyse der touristischen Nachfrage oder Vermarktung zu neuen Erkenntnissen wie etwa im Falle des "Romanze Tourismus" von westlichen Frauen nach Jamaica, wo sich das sozioökonomische Gefälle zwischen Besucherinnen und Besuchten klar als bedeutsamer herausstellt als die konventionelle männliche Vormachtsstellung gegenüber Frauen. Doch letztlich gibt auch der Sonderband der "Annals" nur unzureichend darüber Aufschluss, weshalb die Tourismusforschung gerade jetzt die "Gender"Frage zu entdecken scheint. Folgt sie dabei einfach mit einem gewissen Verzug einem allgemeinen "Gender" Trend in den Wissenschaften und in der Entwicklungsdebatte? Frauen haben entschieden Hochkonjunktur im Tourismus (s. akT+E KUNA 3/94). Die späte Anerkennung mag freuen. Doch bereits haben Buchverlage und Reiseveranstalter die "reisende" Frau als Marktlücke entdeckt. Und die Tourismusindustrie hat längst unter Beweis gestellt, wie profitabel Frauen(bilder) zu vermarkten sind und wie patent sich die Gastgeberinnenrolle ausdehnen lässt, wie flexibilisierbar besonders auch die weiblichen Arbeitskräfte sind. Angesichts der laufenden Umwälzungen und Restrukturierungen im internationalen Tourismus dürften gerade auch diese "Qualitäten" äusserst gefragt sein. Da bleibt doch ein gewisser Erklärungsbedarf, wenn nun plötzlich von allen Seiten die Frauen so prominent an die Vorderfront gerückt werden.
Vivian Kinnaird, Derek Hall (Ed.): Tourism: A Gender Analysis. John Wiley &
Sons Chichester 1994, 218 Seiten, £ 39.95
Annals of Tourism Research, Volume 22, Number 2, 1995: Special Issue on Gender in Tourism, Guest Editor Margaret Byrne Swain. Elsevier Sclence Ltd. and J. Jafari 1995