"Die Regierung ist wie ein Esel", sagt ein Menschenrechtsaktivist in Burkina Faso lächelnd. "Wenn Du den Esel nicht schlägst, bewegt er sich nicht." Seit fast zwei Jahrzehnten engagiert er sich im Kampf gegen die Straflosigkeit, für unabhängige Wahlen und gegen die enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten. Mit den "Hungerrevolten" im Februar 2008 erhielten die sozialen Kämpfe in der ehemaligen französischen Kolonie in Westafrika eine neue Dynamik. Immer wieder kam es zu mehr oder weniger spontanen Protesten. Seither verhandelt die Regierung mit der "Koalition gegen das teure Leben", einem Bündnis aus Gewerkschaften, Menschenrechts- und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Die aktuellen Erfolge der sozialen Bewegungen haben eine lange Vorgeschichte. Ende der 1980er Jahre gründeten sich in zahlreichen afrikanischen Staaten gewerkschaftliche, studentische und andere politische Organisationen, die wesentlichen Anteil am Ende vieler Einparteien- und Militärregime hatten. In Burkina Faso übernahm der heutige Präsident, Blaise Compaoré, 1987 die Regierung, nachdem sein Amtsvorgänger und ehemaliger politischer Weggefährte, Hauptmann Thomas Sankara, bei einem Putsch getötet worden war. Vier Jahre zuvor war Sankara, der sich als "Sozialist" bezeichnte, selbst durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen. 1988 wurde der Gewerkschaftsdachverband Confédération générale des travailleurs du Burkina (CGT-B) gegründet, ein Jahr später das Mouvement burkinabè des droits de l’homme et des peuples (MBDHP), heute eine der grössten Menschenrechtsorganisationen Westafrikas.
1991 wurde das politische System formal demokratisiert; eine neue, von der Regierung vorgelegte Verfassung wurde per Volksabstimmung bestätigt und garantierte politische Rechte. Sankaras umstrittene Volksmilizen Comités de Défense de la Révolution wurden aufgelöst. An der Einschüchterung und dem "Verschwindenlassen" politischer GegnerInnen, Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit sowie Straflosigkeit für Sicherheitskräfte und Getreue des Regimes änderte sich jedoch kaum etwas.
"Jetzt ist es zu viel!"
Zum vorläufigen Höhepunkt der Proteste kam es nach der Ermordung des Journalisten Norbert Zongo im Dezember 1998. Zongo, Herausgeber der Wochenzeitung L’Indépendant, hatte in mehreren Zeitungsartikeln Compaorés Bruder François für den Tod von dessen Fahrer David Ouédraogo verantwortlich gemacht. Die Regierung liess verlauten, der Journalist sei bei einem Unfall gestorben – was viele bezweifelten. Die Beerdigung wurde zur grössten Demonstration gegen die Straflosigkeit, seit Compaoré die Macht übernommen hatte: Über 20’000 Menschen gaben Zongo das letzte Geleit, sein Tod wurde in ganz Westafrika zum Symbol für staatliche Willkür.
Der Tod Zongos wirkte als Katalysator, die Studierendenbewegung und einzelne Gewerkschaften gewannen an Kraft. "Trop, c’est trop!" (jetzt ist es zu viel) lautete der Slogan zahlreicher Demonstrationen. Die CGT-B, der MBDHP, die Studierendenorganisation Union générale des étudiants du Burkina (UGEB) und die Vereinigung der JournalistInnen Association des journalistes du Burkina (AJB) schlossen sich 1999 mit Oppositionsparteien, Frauen- und Anwaltsgruppen zum Collectif des organisations démocratiques de masse et de partis politiques zusammen, genannt "Kollektiv gegen die Straflosigkeit". Die Regierung befasste sich nur oberflächlich mit den Vorwürfen. Pro forma wurden Untersuchungen durchgeführt und einzelne niedrigrangige Angehörige der Sicherheitskräfte angeklagt. Gleichzeitig reagierte das Regime mit Einschüchterung und Repressionen. Sechs führende Köpfe des "Kollektivs" wurden unter dem Vorwurf inhaftiert, einen Staatsstreich zu planen.
Bis Ende der 2000er Jahre bestimmte die Forderung nach politischen und bürgerlichen Rechten die Agenda der sozialen Bewegungen in Burkina Faso. Das "Kollektiv" organisierte jährlich am 13. Dezember anlässlich des Todestags von Norbert Zongo eine Demonstration. Zu spontanen Protesten kam es erneut 2006. Jugendliche lieferten sich in Ouagadougou Gefechte mit den Sicherheitskräften. Anlass war der Versuch der Regierung, eine Helmpflicht zu erlassen.
Gegen das teure Leben
Im Februar 2008 protestieren erneut landesweit tausende Menschen. Auslöser sind diesmal die innerhalb kurzer Zeit rapide gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel, vor allem Getreide und Speiseöl. Der Preis für Reis beispielsweise hatte sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. In allen grösseren Städten des Landes gehen Menschen auf die Strassen. Sie errichten Blockaden, greifen Regierungsgebäude an, es kommt zu Konfrontationen mit den Sicherheitskräften. Die Proteste richten sich auch gegen eine kommunale "Entwicklungssteuer" auf Fahrräder, Mopeds, PKW und LKW. Die Steuer soll ausgerechnet zu einem Zeitpunkt eingeführt werden, zu dem viele Menschen sich keine zwei Mahlzeiten täglich mehr leisten können.
Waren bislang Studierende, SchülerInnen, organisierte ArbeiterInnen, Intellektuelle und Teile der urbanen Mittelschicht an sozialen Protesten beteiligt, gehen bei den Hungerrevolten 2008 auch KleinhändlerInnen, HandwerkerInnen und andere im informellen Sektor Tätige auf die Strasse. Die Auseinandersetzungen kommen selbst für viele Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen überraschend.
"Die spontanen ‹Aufstände› haben uns gezeigt, dass ‹das teure Leben› kein rein gewerkschaftliches Thema ist", erklärt ein langjähriger Aktivist der Studierenden- und Jugendbewegung. Preise und Arbeitslosigkeit seien bereits gestiegen, während die organisierten sozialen Bewegungen im "Kollektiv" ihre Kämpfe auf politische Rechte konzentrierten. Erneut greifen die Organisationen des "Kollektivs" die spontanen Proteste auf – allen voran die Gewerkschaften, für die die Schere zwischen Preisen und Einkommen ein Kernthema ist. Im März 2008 gründen die CGT-B, der MBDHP sowie zahlreiche Einzelgewerkschaften, Studierenden-, Jugend- und Frauenorganisationen die Coalition Contre la Vie Chère (Koalition gegen das teure Leben, CCVC).
Stärker als im "Kollektiv" sind in dem neuen Bündnis Jugendliche und Frauen vertreten. Hatte im "Kollektiv" die Menschenrechtsbewegung mit dem MBDHP den Vorsitz, stehen an der Spitze der "Koalition" die Gewerkschaften. Einigkeit besteht darüber, dass wirtschaftliche, soziale und politische Rechte untrennbar zusammenhängen: Ursächlich für die Preiskrise sei die Wirtschaftspolitik der Regierung, vor allem ihre Hörigkeit gegenüber den Bretton-Woods-Institutionen. Der Forderungskatalog umfasst deshalb neben wirtschaftspolitischen Forderungen wie Preiskontrollen auch Bildungs- und Gesundheitspolitik sowie politische Rechte, etwa die Zulassung parteiunabhängiger Kandidaturen bei Wahlen.
Der wichtigste Unterschied gegenüber dem "Kollektiv" ist, dass in der "Koalition" keine politischen Parteien vertreten sind. Allzu häufig versuchten sie, zivilgesellschaftliche Gruppen zu instrumentalisieren. Mit Blick auf die 2012 anstehenden Parlamentswahlen organisierte das "Kollektiv" im Dezember 2011 erstmals keine Demonstration anlässlich des Todestags von Norbert Zongo: Man will den Parteien keine Gelegenheit bieten, die Proteste im Wahlkampf zu nutzen.
Zu einem weiteren Höhepunkt der Proteste gibt erneut ein Todesfall Anlass: Am 20. Februar 2011 stirbt der Schüler Justin Zongo in Koudougou im Gewahrsam der örtlichen Gendarmerie (der Name Zongo ist in Burkina Faso häufig, die beiden Opfer sind nicht verwandt). Todesursache sei Meningitis, erklären die Behörden. SchülerInnen und Studierende, die einen Zeugen für die Verhaftung und Folterung Justin Zongos vorweisen, fordern die Aufklärung der Todesumstände. Sie können sich dabei auf breite Unterstützung durch die Bevölkerung und Menschenrechtsorganisationen im ganzen Land stützen. Bei den Protesten gibt es hunderte Verletzte, mindestens fünf DemonstrantInnen und ein Polizist werden getötet, zahlreiche Polizeistationen, Regierungs- und Verwaltungsgebäude brennen.
Ende März gibt es auch in den Kasernen Unruhen: Anfangs protestieren einige Soldaten in Ouagadougou gegen die Verurteilung eines Armeeangehörigen nach einem Beziehungsstreit. Die Proteste weiten sich aus, auch an vielen anderen Standorten meutert das Militär. Es geht um die Höhe und unregelmässige Zahlung des Solds. Als sich im April sogar die Präsidentengarde anschliesst, muss Blaise Compaoré kurzzeitig aus Ouagadougou in seinen Heimatort Ziniaré fliehen. Bei Schiessereien werden zahlreiche Geschäfte geplündert und in Brand gesteckt, woraufhin HändlerInnen den Sitz der Regierungspartei anzünden. Compaoré wechselt die Führungsriege der Armee aus und bildet eine neue Regierung. Armeeangehörige erhalten Sonderzahlungen, die HändlerInnen Entschädigungen.
Ein Esel bleibt ein Esel
Mitten in der politischen Krise organisiert am 8. April 2011 die "Koalition" die bislang grösste Demonstration "gegen das teure Leben" mit zehntausenden TeilnehmerInnen. Diesmal reagiert die Regierung nicht mit Repressionen, sondern verhandelt mit Gewerkschaften. Die Löhne im öffentlichen Sektor werden erhöht, die kommunale Entwicklungssteuer wird abgeschafft, Preise für Grundnahrungsmittel temporär festgesetzt, Getreide zu subventionierten Preisen verkauft. Auch im Fall des Todes von Justin Zongo reagiert das Regime anders als zuvor bei Norbert Zongo. Eine Untersuchung wird eingeleitet und die schuldigen Gendarmen in Koudougou verurteilt. Gegen die politisch Verantwortlichen gibt es allerdings auch diesmal keine Anklage.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in Burkina Faso die Brotrevolten im Februar 2008 intensiver ausfielen als in den meisten anderen afrikanischen Staaten. Grund dafür ist die jahrelange Mobilisierung der Gewerkschaften und des "Kollektivs". Die Einschätzungen über den jüngsten Wandel in der Haltung der Regierung gegenüber den sozialen Bewegungen gehen jedoch auseinander. Vor allem altgediente AktivistInnen, die sich noch gut an die Repressionen der vergangenen zwei Jahrzehnte erinnern, sind stolz auf das Erreichte und wissen die Verbesserungen zu schätzen. Viele Studierende und SchülerInnen machen sich dagegen wenig Hoffnung auf einen Wechsel: "Ein Esel bleibt eben ein Esel", meint ein Vertreter der Studierendenbewegung. Viele befürchten, dass das derzeitige Entgegenkommen der Regierung ein Versuch ist, die Macht zu erhalten. Blaise Compaoré, der dieses Jahr sein 25-jähriges Dienstjubiläum feiert, möchte die Verfassung so ändern, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2015 erneut antreten kann.


Dieser Beitrag ist dem Informationszentrum 3. Welt (iz3w) vom März/April 2012 entnommen. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

Bettina Engels ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.