Tsunami-Tourismus in Südindien
T. Ravindran lebt mit seiner vierköpfigen Familie in einer verfallenen Hütte direkt am Meer. Sie besteht aus nur einem Raum und ist mit Palmblättern gedeckt. Ravindran ist ein traditioneller Fischer in Pozhikara, einem Dorf in der Nachbarschaft des Touristenortes Veli im südindischen Bundesstaat Kerala. Als ich ihn nach dem neuen, über einen Meter hohen, befestigten Strandweg für Touristen fragte, der direkt vor seinem Haus entlang gebaut wurde, sagte er: "Genau da, wo diese Konstruktion entstanden ist, lag immer mein Boot. Ich weiss nicht, wie das heisst, was sie da gebaut haben, aber es soll wohl für die Touristen sein." Er erzählt mir, wie dieser Ort schon seit Generationen von seiner Familie für die Fischerei genutzt wird. "Aber wir haben kein eingetragenes Recht an dem Land", sagt er. "Wir haben traditionell hier gelebt, ohne Einschränkungen durch irgendwen." Nun können viele Fischer ihre Boote hier nicht mehr parken. "Diese Mauer, dieser Weg, wie auch immer man das nennen will, ist ein Hindernis für uns. Immer wenn das Meer etwas rauer ist und näher an unsere Häuser heranrückt, müssen wir die Boote verlagern. Das passiert jetzt recht häufig, und da müssen wir nun die Boote um dieses Ding herummanövrieren."
Als ich Ravindran gegenüber erwähnte, dass der Weg mit Geldern gebaut wurde, die zum Wiederaufbau nach dem Tsunami vorgesehen waren, war er einen Moment lang wie erstarrt. "Wie können sie das tun, wie können sie Tsunami-Gelder für den Tourismus verwenden?", fragte er schliesslich. "Hier hat der Tsunami ja gar keine Zerstörung angerichtet. Und das Geld sollte doch für uns, für die Fischer, für die Verbesserung unserer Lebensumstände sein. Wir leben in ständiger Angst vor dem Meer. Nach dem Tsunami ist unsere Situation noch schlimmer geworden, als sie vorher ohnehin schon war. Kein Wunder, dass die Regierungsbeamten uns nicht konsultiert haben. Sehen Sie nur, unter welchen Bedingungen wir leben! Vielleicht wurde dieses Ding da gebaut, um einen besseren Blick auf unsere Misere zu erlauben, als Teil der Szenerie für die Touristen?"
Zweckentfremdung von Tsunami-Geldern
Es ist kein Wunder, dass die Fischer schockiert sind zu erfahren, dass das Tourismusministerium ihrer demokratisch gewählten Regierung derartige Informationen zurückhält. Auf eine Anfrage von "Kabani – the other direction" mit Bezug auf das indische Gesetz zum Recht auf Information war die Behörde "Kerala Tourism" nicht bereit, ausreichend Details über die Verwendung von Geldern aus dem Tsunami Wiederaufbau-Fonds zur Entwicklung des Strandtourismus offen zu legen. Die Anfrage bezog sich zum Beispiel auf das künstliche Riff, das in Kovalam Beach errichtet werden soll. Es ist eines von 22 Tourismusprojekten, die derzeit geplant sind oder bereits umgesetzt werden, und die mit Tsunami-Geldern finanziert werden. All diese Projekte sind in Orten vorgesehen, wo der Tsunami keinen Schaden an der touristischen Infrastruktur verursacht hat.
Kaum Arbeitsplätze
Das Dorf Chothavilai liegt direkt an der Küste, in der Nähe von Kanyakumari, einem beliebten Pilgerort im Bundesstaat Tamil Nadu, an der Südspitze Indiens. Am Strand gibt es einen kleinen Touristenpark. Tsunami-Gelder in Höhe von 2,4 Millionen Rupien (ca. 35.000 Euro) wurden ausgegeben, um diesen Park instand zu setzen. Die Regierung von Tamil Nadu zitiert in ihrem tourismuspolitischen Konzept das Tourismusministerium der indischen Zentralregierung und sagt, dass für jede in den Tourismus investierte Million Rupien 47,5 Arbeitsplätze geschaffen würden.
Auf die Frage, wie viele Einheimische hier in Chothavilai von der Tourismusentwicklung profitiert hätten, antwortet der Besitzer eines kleinen, behelfsmäßig eingerichteten Ladens am Touristenstrand: "Der Tourismus hat kaum Jobs oder Vorteile gebracht. Nur fünf oder sechs Leute mit solchen Läden wie meinem haben etwas davon. Aus meiner persönlichen Sicht ist es also gut, aber für die Menschen hier gibt es Probleme. Viele Leute mussten ihr Land an die Tourismuswirtschaft verkaufen. Einheimische können hier kein Land mehr für sich oder ihre Kinder erwerben, denn die Grundstückspreise sind enorm gestiegen. Die Touristenpolizei verjagt Einheimische vom Strand, mit der Begründung, sie würden die Touristen behelligen. Die Frauen aus dem Dorf können sich nicht mehr so frei bewegen, wie sie es gewohnt waren, denn sie werden von auswärtigen Besuchern belästigt."
Verletzungen der Richtlinien zum Küstenschutz
In Chothavilai haben die Tourismusinvestitionen die Anfälligkeit der einheimischen Bevölkerung und der Umwelt erhöht. Um den Touristenstrand durch eine Strasse und weitere Infrastruktur zu erschliessen, wurden vor dem Tsunami Sanddünen zerstört, die als natürliche Schutzbarrieren vor dem Meer dienten. Durch den Tsunami verloren in dieser Gegend 30 Menschen ihr Leben.
Die Regierungen von Kerala und Tamil Nadu haben bei der Zweckentfremdung von Tsunami-Geldern geholfen, die für die Bevölkerung an der Küste gedacht waren. Indem diese Gelder für touristische Entwicklung ausgegeben werden, nutzen sie der Tourismuswirtschaft und marginalisieren die ohnehin schon benachteiligte einheimische Bevölkerung noch weiter. All diese Tourismus-Bauten verletzen die bestehenden Richtlinien zum Küstenschutz, die dazu gedacht sind, die Ökologie der Küstenzone zu schützen. Diese Richtlinien schützen auch die Rechte der Fischer. Nach dem Tsunami sollte 2005 eine neue Gesetzgebung eingeführt werden, die so genannte "Coastal Management Zone Notification". Damit sollte eine gross angelegte touristische und andere industrielle Entwicklung entlang der Küste zugelassen werden. Schutzmassnahmen für die traditionellen Rechte der Küstenbewohner und für die Ökosysteme der Küste waren darin nicht vorgesehen. Nach weit reichenden Protesten und Widerstand musste die neue Gesetzgebung 2009 schliesslich verworfen werden.
Tsunami-Tourismus
Im Juni 2008 berichtete die "Times of India", die Regierung von Tamil Nadu würde Möglichkeiten in Erwägung ziehen, aus den vom Tsunami betroffenen Dörfern Denkmäler der Katastrophe zu machen. Ziel sei es, die Erinnerung an die Zeit vor dem Tsunami wach zu halten und Besucher über die verheerenden Auswirkungen der Katastrophe an diesen Orten aufzuklären. Dies, so hiess es, würde auch verhindern, dass diese Orte völlig in Vergessenheit gerieten. Die Regierungen der südindischen Bundesstaaten könnten mit Leichtigkeit "Tsunami-Tourismus" fördern, denn auch fünf Jahre nach dem Tsunami sind noch immer viele der betroffenen Gemeinschaften in einer erbärmlichen Situation. "Unsere Misere als Szenerie für Touristen." In den vom Tsunami betroffenen indischen Bundesstaaten finden T. Ravindran’s Worte ihren Widerhall in den Eingriffen des Tourismus in das Leben der Menschen.
Sajeer Abdul Rehman ist Mitglied von "KABANI – the other direction". Er arbeitet mit Gemeinschaften in den vom Tsunami betroffenen Küstenregionen in Kerala und Tamil Nadu zusammen, um ihre Fähigkeiten zu stärken, sich gegen negative Entwicklungen zur Wehr zu setzen, die ihr Leben betreffen. In dieser Arbeit wird Kabani von der britischen Nichtregierungsorganisation Tourism Concern unterstützt.
Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp.