Anlässlich der Fachtagung der tourismuskritischen Organisation EQUATIONS vom 5. – 7. Juli 2005 im südindischen Bangalore gaben aktuelle Bestandesaufnahmen von Fachleuten und Augenzeugenberichte Einblick in die Situation in den südindischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Kerala, auf den Andamanen und Nicobaren, auf Sri Lanka sowie in Thailand und im indonesischen Aceh. Das Erdbeben und die Flutwellen vom 26. Dezember 2004 haben rund um den Indischen Ozean Schäden unterschiedlichens Ausmasses angerichtet. So zeigen Studien aus Südindien, dass da, wo Mangrovenwälder und andere natürliche Schutzbarrieren im Küstenbereich relativ intakt waren und die gesetzlich vorgeschriebene Küstenschutzzone (Coastal Regulation Zone – CRZ) eingehalten wurde, kaum Menschen oder Bauten zu Schaden kamen. Je nach Land und betroffenem Gebiet sind auch die Hilfsmassnahmen, sei es durch den Staat und/oder private Hilfsorganisationen, völlig unterschiedlich angelaufen. Deshalb erheben die Bestandesaufnahmen zu Tsunami und Tourismus, die im Juli 2005 in Bangalore zusammengetragen wurden, in keiner Weise Anspruch auf ein umfassendes Bild der Situation der Menschen in betroffenen touristischen Gebieten. Sie vermögen aber – wenige Wochen vor der Hochsaison – die Bilder der oft auf Tourismusinteressen ausgerichteten Berichterstattung in den westlichen Medien zu ergänzen.

Verantwortlichkeit von Regierungen und Behörden zur Koordination der Hilfe

In Thailand und Südindien sind offenbar die Aufräumarbeiten vielerorts beendet und der Wiederaufbau wird von einer Vielzahl von qualifizierten und engagierten Leuten aus Behörden und Hilfsorganisationen vorangetrieben. In nicht-touristischen Orten entlang der Küsten jedoch und in Sri Lanka sind die Trümmer, welche die Flutwellen hinterlassen haben, noch keineswegs beseitigt; auf dem Archipel der Andamanen und Nicobaren sind teilweise noch nicht einmal die Schäden erfasst. Dabei steht in erster Linie das Versagen der Regierungen und lokalen Behörden zur Koordination der Hilfe am Pranger. Kritisiert wird aber auch das Vorgehen von gewissen Hilfswerken, die sich im Trubel der Solidaritätsbekundungen nicht scheuten, etwa Care-Pakete mit wollenen Winterkleidern oder gar Hundefutter nach Sri Lanka zu schicken, die mit ad-hoc gesammelten Geldern einfach möglichst bald Bilder fix-fertig erstellter Behausungen an die Spendergemeinschaft senden wollen, ohne sich um Infrastrukturen wie Toiletten, Abwasser etc. zu kümmern, und oft mehr oder weniger wissentlich auch ethnisch-religiöse Spannungen schüren, um die betroffenen Menschen um sich zu scharen. So haben sich in Thailand oder Südindien Menschen in einigen Orten völlig lethargisch in Notunterkünften etabliert, weil sie von Hilfsorganisationen da rund um die Uhr üppig mit Essen, Motorrädern und anderen Konsumgütern versorgt werden und keine Motivation haben, sich nach dem Trauma des Tsunami eine neue Existenz aufzubauen. In Sri Lanka hingegen zwingen vielerorts die Lethargie der Behörden und die neu aufgeflammten politischen Auseinandersetzungen die Tsunami-Opfer dazu, sich in den Notunterkünften, den zerfetzten Zelten oder den fürs Monsunklima völlig untauglichen Wellblechbehausungen dauerhafter einzurichten, eine Küche vor der Hütte einzurichten und sogar einen Kräutergarten mit dem Nötigsten zur Selbstversorgung anzulegen.

Gravierender Trinkwassermangel auf den Andamanen und Nicobaren

Auf den Andamanen und Nicobaren, wo sich die ganze Struktur des Archipels beim Erdbeben vom 26. Dezember 2004 tektonisch erheblich verschoben hat, musste laut den Vermutung der Experten auf der Tagung in Bangalore praktisch jeder und jede BewohnerIn Schäden in Kauf nehmen. Viele Holzhäuser aus der britischen Kolonialzeit überstanden das Erdbeben, während die herabstürzenden Trümmer der neuen Betonbauten Menschen unter sich begruben. Dass sich die meisten Angehörigen der UreinwohnerInnen des Archipels vor der Katastrophe retten konnten, ist gemäss der Ansicht der Fachleute keineswegs auf einen „Ur- Instinkt“ der Indigenen zurückzuführen, wie in westlichen Medien so romantisierend dargestellt, sondern auf die Tatsache, dass die Indigenen kaum vom Fischfang und deshalb auch nicht direkt am Strand leben. Ausserdem haben sie ein angestammtes Wissen über Erdbeben und Tsunamis, da die Erde auf dem Archipel durchschnittlich 150 Mal im Jahr bebt und Flutwellen auch schon vorgekommen sind, wenn auch nicht so grosse wie diejenige vom 26. Dezember 2004. Dramatisch zugespitzt hat sich auf den Andamanen und Nicobaren mit dem Tsunami der Trinkwassermangel. Die Ursache der mangelnden Trinkwasserversorgung liegt allerdings bei der über die letzten Jahrzehnte aktiv betriebenen Zuwanderungspolitik von Händlern und Holzfällern aus Indien. Die Appelle aus den Andamanen und Nicobaren richten sich denn auch ausschliesslich an die indische Zentralregierung und die regionalen Behörden. Wie opportun auswärtige, internationale Hilfe wäre, wird kontrovers diskutiert; insgesamt fürchtet man dadurch mehr Schäden für die fragilen Strukturen der letzten überlebenden UreinwohnerInnen. Einig sind sich die Fachleute, dass das Ökosystem des Archipels nun Ruhe braucht, um sich von den Erschütterungen des Tsunami zu erholen – bis zu sechs Meter hat sich der Norden über die bisherige Hochwasserlinie heraus angehoben und die Korallenriffe sind der Ausbleichung durch die Sonne preisgegeben, während auf den Nicobaren im Süden ganze Inseln definitiv unter Wasser abgesunken sind. Unerwartetes Ergebnis der Katastrophe ist, dass die Fischer so viele „Prawns“ wie noch nie aus den ausgeschwemmten Reisfeldern fischen. Bedroht wird die natürliche Wiederherstellung der Ökosysteme auf dem Archipel vor allem aber durch die neuen „Entwicklungs“-Vorhaben der indischen Regierung: Sie hat mit Thailand, von wo aus der Archipel in weniger Flugzeit als von Indien erreichbar ist, einen Plan zur touristischen Erschliessung des Inselreiches beschlossen. Und der ist offenbar auch mit dem Tsunami nicht vom Tisch, im Gegenteil.

Marketingoffensive statt klare ökologische und soziale Standards für den Tourismus

Die Regierungen von Indien, Thailand und Sri Lanka haben einhellig und wiederholt bekräftigt, dass sie den Tourismus in den Tsunami-Gebieten so schnell wie möglich wieder aufbauen wollen. Sie folgen darin der Welttourismusorganisation (WTO-OMT), die Ende Januar 2005 im „Phuket Action Plan“ einmal mehr Tourismus als Entwicklungsperspektive für die Schaffung von Arbeit und Einkommen und damit zur Überwindung der Armut pries. Einmal mehr ohne dabei verbindlich die Rahmenbedingungen festzulegen, die Regierungen
dafür festzulegen und die Tourismuswirtschaft einzuhalten hätte. Rahmenbedingungen notabene, welche die WTO-OMT selbst in zahlreichen ihrer Programme und Richtlinien, etwa dem Globalen Ethikkodex für Tourismus oder dem ST-EP-Programm zur Bekämpfung der Armut im Tourismus, festgehalten hat. So entfaltete die WTO-OMT im Rahmen des Phuket Action Plans selber denn auch in erster Linie eine grosse Marketingoffensive, um den Tourismus in den vom Tsunami-betroffenen Ländern so schnell wie möglich wieder
anzukurbeln. Dies im Einklang mit VertreterInnen aus der Privatwirtschaft und den Regierungen der betroffenen Länder, die ihrerseits bei jeder Gelegenheit betonen, dass der Wiederaufbau des Tourismus auch klaren ökologischen Richtlinien zu folgen habe. Klare Vorgaben zur Neuausrichtung des Tourismus auf eine umweltverträgliche und sozialverantwortliche Entwicklung sind aber bislang nicht konkret auszumachen. Derweil reagieren, wie die Bestandesaufnahme an der Bangalore-Tagung vom Juli 2005 zeigen,
betroffene EinwohnerInnen bitter auf die Tatsache, dass ihre Regierungen mehr Geld für die Tourismuswerbung auszugeben scheinen als für ihre Rehabilitation.

Umstrittene Küstenschutzzonen

Die betroffenen Menschen stehen oftmals vor grossen, gar unlösbaren Problemen mit der Einrichtung bzw. Einhaltung von Schutzzonen im Küstenbereich, die in Sri Lanka oder Indien teilweise bereits seit Jahren gesetzlich verankert waren, aber nicht respektiert wurden: 100 Meter sind es im Süden und Westen von Sri Lanka, 200 Meter von der Flutlinie entfernt im Osten und Norden der Insel, bis zu 500 Meter von der High Tide Line in Südindien. Das ist das wichtigste Terrain des Tourismus – Meersicht und -anstoss für die Hotels, Erwerbsgrund für die Strandläufer, SouvenirverkäuferInnen und Inhaber von Beach-Shaks, nicht zu reden von den Fischern, die sich oft genug seit Jahren mit der Tourismusindustrie um einen gerechten Zugang zu ihrer Erwerbsgrundlage abmühen mussten. Nun hat der Tsunami vielerorts alles vom umstrittenen Strand weggeschwemmt und die Debatten und Konflikte um die Nutzung dieses meist nicht durch Landrechtstitel festgelegten Küstenbereiches neu geschürt. In Thailand, Indien und Sri Lanka warten derzeit unzählige von Menschen auf die Entscheide von Politikverantwortlichen oder Gerichten, ob und wie sie nun künftig den Strandbereich nutzen können. In Sri Lanka werden damit auch Auszahlungen der Hilfsgelder an Betroffene verschleppt und auf die lange Bank geschoben. „Tsunami cleared the way for development”, meinten denn auch viele Fachleute aus betroffenen Gebieten an der Bangalore Tagung. Die erklärten Absichten der Regierungen, den Tourismus so schnell wie möglich wieder anzukurbeln, lassen in der Tat die Befürchtung zu, dass sich im rechtlich ungeklärten Strandbereich schnell Investoren und Spekulanten dieser als so lukrativ erachteten Wirtschaftsbranche Tourismus breit machen, auf Kosten der angestammten Erwerbstätigen aus der Fischerei oder etwa dem Kokosanbau.

Soziale Verantwortung im Tourismus?

Ungewiss bleibt damit auch das Schicksal der zahllosen Erwerbstätigen aus dem informellen Bereich des Tourismus, die in den vom Tsunami betroffenen Gebieten ihre Einnahmequellen verloren haben. Weitgehend unklar bleibt zudem, wovon die Arbeitnehmenden aus dem formellen Sektor des Tourismus überleben, die aufgrund des Tsunami ihre Stelle verloren haben, sei es, weil das Hotel oder Restaurant zerstört wurde, sei es aufgrund des Einbruches der Tourismusankünfte. Über eine Sozialversicherung, die helfen könnte, krisenbedingte „Durststrecken“ zu überwinden, verfügen die allermeisten Angestellten im Tourismus nicht. Und zuständig für die Arbeitskräfte, die offenbar nur dann geschätzt werden, wenn sie zum Wohlgefühl der UrlauberInnen beitragen, fühlt sich niemand so richtig. Noch nicht einmal die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat bislang eine Abklärung ihrer Lage vorgelegt. Die Tourismusbranche hat sich ihrerseits – das wird bei jeder Krise deutlich – noch kaum damit auseinandergesetzt, was „Corporate Social Responsibility“ für sie bedeutet, gesellschaftliche Verantwortung, verlässliche langfristige Partnerschaften mit den Menschen in den Zielgebieten. Internationale Hotel- und Reisekonzerne haben zum Teil die Tsunami-Gebiete einfach fallen lassen. Andere, darunter auch Schweizer Veranstalter, bemühen sich redlich, auch über die finanziellen Schäden, die ihnen mit dem Tsunami entstanden sind, hinaus ihre angestammten Partner in betroffenen Gebieten im Angebot zu halten und zu bewerben. Das alles kostet und lässt sich aus heute üblichen Reisepreisen wohl nur schwer herauspressen. Einige Tourismusunternehmen haben sich im Sog der Solidaritätswelle nach dem Tsunami auch in Nothilfe- und Wiederaufbaumassnahmen etwa von Fischerdörfern in Thailand oder Sri Lanka engagiert. Dem Image der Unternehmen mag dies allemal zuträglich sein. Was dabei Angestellten und Partnern aus Kleinbetrieben und dem informellen Sektor im Tourismus zugute kommt, bleibt vorerst offen.

Jetzt auf das „Frühwarnsystem“ hören

Der Tsunami vom 26. Dezember 2004 hat mit seinen immensen Zerstörungen wohl noch eindrücklicher als alle früheren „Tourismuskrisen“ gezeigt, wie exponiert und fragil der bestehende Tourismus ist. Die möglichst schnelle Rückkehr zur alten Tagesordnung, für die mit den Marketingoffensiven plädiert wird, ist keine Antwort auf das Schicksal der zahllosen Betroffenen, die im Tourismus ein dauerhaftes Auskommen suchen und eine menschenwürdige Existenz aufbauen wollen. Völlig ungewiss bleibt auch, wie die Zukunftsversprechen der Tourismusindustrie eingelöst werden, so lange diese nicht mit klaren gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien den Schutz der Natur und die Würde der Menschen in den Zielgebieten gewährleisten. „There is a reason for that a beach is a beach and there is nothing on it“, hielt die Anwältin und Frauenrechtlerin Albertina Almeida aus Goa stellvertretend für viele TeilnehmerInnen an der Tourismustagung in Bangalore vom Juli 2005 fest. In der Folge massiven Schäden des Tsunami kann sich derzeit jeder Umweltschützer damit brüsten, Mangroven zu pflanzen, obwohl die Bedingungen wie Brackwasser längst nicht überall gegeben sind, damit daraus ein „Schutzschild“ für den Strandbereich entsteht. Und IT-Firmen können sich eine goldene Nase verdienen mit der Erfindung von hochtechnisierten Tsunami-Frühwarnsystemen. Währenddessen wird den kritischen Gruppierungen weiterhin kein Gehör geschenkt, die seit vielen Jahren auf die fatalen Fehlentwicklungen des Tourismus und anderer moderner Industriezweige wie der Krevettenzucht in den jetzt vom Tsunami betroffenen Gebieten aufmerksam gemacht und damit die Funktion eines echten „Frühwarnsystems“ eingenommen haben. Es gibt auch jetzt in den Gebieten, die vom Tsunami zerstört wurden, traditionelles Wissen um ökologische Zusammenhänge, schonende Nutzung der Naturressourcen und angepasste, nachhaltige Lebensweisen, und dieses Wissens – so der Tenor an der Tagung im südindischen Bangalore – muss im Wiederaufbau umfassend berücksichtigt werden.

Basel, August 2005
Christine Plüss, arbeitskreis tourismus & entwicklung

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