Über die Magie des Alltags, die Flugscham und Urlaubs-Bettenburgen
2019 wurde noch reisten die rund sechs Prozent der Reichsten dieser Welt, als gäbe es kein Morgen. Nur die Pandemie konnte den steten Zuwachs an Fernreisen kurzzeitig stoppen. Doch schon im Jahr 2023 erwartet die Branche, wieder auf den Stand von 2019 zu kommen und von dort weiter zu wachsen. Das sind schlechte Aussichten auf die Chancen zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens. Die Sorge der Menschen über den Klimanotstand ist grundsätzlich gross – und scheint doch zu verfliegen, sobald es um die Wahl des nächsten Ferienziels geht.
Das Narrativ: Wunderwelt versus grauer Alltag
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon liegt darin, wie wir über Fernreisen sprechen. Genau das hat das Sprachkompass-Team unter der Leitung von Dr. Hugo Caviola für das Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern untersucht. Das Team analysierte den Sprachgebrauch der Reisewerbung und zeigt, dass in der Werbung zwei sich diametral gegenüberstehende Welten konstruiert werden: Eine Ferienwelt, die über Wörter wie "Traum, Paradies, Wunder, Magie und Märchen, Schlaraffenland, Erlebnis, Glück, Abenteuer" anzieht, eine Welt, die wir voller Leidenschaft, Ergriffenheit und Gefühlsintensität erleben auf der einen Seite. Auf der anderen der Alltag mit seinen immer gleichen Abläufen, beschrieben mit Wörtern wie "Winterblues, Nebeldecke, zig Kleiderschichten, Hudelwetter, Termine am Bürotisch", was uns nahelegt, dieser Alltag sei etwas Düsteres, Kaltes, das wir gelangweilt, stoisch oder gar schwermütig ertragen und dem wir doch besten so schnell wie möglich entfliehen.
Doch ist dem so? Letztes Jahr verzichteten viele pandemiebedingt auf ihre Auslandreise. Das Forschungsinstitut GFS Bern untersuchte im Februar 2021 für das TCS Reisebarometer unter anderem, wie gross die Sehnsucht nach der Ferne ist, und siehe da: 52 Prozent der über tausend Befragten aus der Schweizer Wohnbevölkerung schien das Auslandsabenteuer gar nicht besonders zu missen. Sie entdeckten, dass gute Gespräche mit Freunden, die Auszeit um die Ecke oder das ökologisch bewusste Reisen genauso Erlebnisakzente setzen können wie ein CO2-intensiver Flug ans andere Ende des Globus.
Blind für die Distanzen
Etwas Weiteres fiel dem Berner Forscherteam zur Sprache über Fernreisen auf: In dieser Gegenüberstellung von grauem Alltag und paradiesischer Ferienwelt wird die Reise selbst ausgeblendet, oder wie Hugo Caviola schreibt: "Menschen sitzen in diesen Texten entweder im Alltag am Bürotisch und folgen dessen Regeln oder sie liegen auf den Malediven am Traumstrand. Mit dem Reiseweg werden auch die realen Distanzen ausgeblendet. Kein Reisebericht, keine Fernreisewerbung bietet Angaben zur Anzahl der Kilometer, die zwischen dem Zuhause und dem fernen Reiseziel liegen. Auch das nicht selten stundenlange Warten auf den Flughäfen und oft beengende Herumsitzen im Flugzeug, geschweige denn die CO2-Belastung, die zum Reiseziel führt, bleiben ausgespart. Allgemeiner ausgedrückt: All die positiv besetzten Ausdrücke in diesen Texten wirken nicht nur in dem, was sie versprechen, sondern erst recht in dem, was sie verschweigen: Die Umstände des Reisens, die Betonburgen an den Stränden, das Wissen um die Umweltbelastung und all das, was sonst das Reiseglück beeinträchtigen könnte."
Füllhorn und Spielwiese für ungelebte eigene Potenziale
Mit der aus Märchen und Legenden entlehnten Begrifflichkeit (z.B. Traum und Wunder) und dem Versprechen von Erlebnissen (z. B. einem das "Unterwassererlebnis auf dem Hausriff") wird nahegelegt, dass wir im kontrollierten Urlaubs-Rahmen eine "authentische" Erfahrung machen und uns dabei neu erfinden können. Caviola erkennt in der Reisewerbung auch eine neue Wertung des Wortes „ Abenteuer": "War das Abenteuer – etwa im Abenteuerroman – mit einer existenziellen Erfahrung und Gefährdung verbunden, so wird das touristische Abenteuer zum letztlich ungefährlichen Konsumgut verdinglicht."
Gleichzeitig steckt in der Urlaubswerbung die Aufforderung zu Entgrenzung und Maximalkonsum, mit Versprechungen wie "Buffet wie im Schlaraffenland" oder dem "Infinity Pool und den exotischen Cocktails".
Sprachlich neue Sichtweisen ermöglichen
Doch es geht auch anders: Wahrnehmungsrahmen kann man verändern. Schweiz Tourismus zeigt exemplarisch, wie auch Nahziele exotisch sein können. Etwa, wenn der Laborangestellte neben seinem Arbeitsplatz einen Teller Raclette (eine typische Walliser Käsespeise) stehen hat, was in den Slogan mündet: "Der Beweis: Das Wallis macht süchtig". Viele pandemiebedingt zu Hause Gebliebene haben entdeckt, dass die eigene Stadt viel mehr zu bieten hat, als sie je geträumt hätten. Solche Erfahrungen verschieben die Wahrnehmung. Man sieht: Das Glück ist nicht ausserhalb, es ist hier und jetzt. Der Psychologe Seligman hat dies im Kürzel PERMA zusammengefasst: Positive Emotionen, Engagement für das, was uns wichtig ist, gute Beziehungen (Relationships), etwas Sinnvolles tun (Meaning) und Ziele stecken und erreichen (Achievement/Accomplishment). Das greifbare Glück im Alltag benennen, kann helfen, die gedachte Dualität von Alltag und Ferien aufzuheben.
Regulierungsrahmen neu setzen
Als weitere Gegenmittel machen die Sprachkompass-WissenschaftlerInnen Wort-Neuschöpfungen aus. Sie sind kreativ, frech und können Verhalten beeinflussen: Dass "Flugscham" plötzlich benannt und zum In-Wort wurde, bewirkte bei einigen ein Umdenken bei der Wahl der Transportmittel. Noch ein Vorschlag: Die Behörden könnten als Vorbild per ÖV reisen und Faustregeln wie "Pro Flugstunde eine Woche Aufenthalt" bekannt machen. Doch Massnahmen nur auf sprachlich-symbolischer Ebene reichen Caviola und KollegInnen nicht aus. Sie plädieren für Regulierungen: Regierungen könnten über Steuern Obergrenzen des CO2-Ausstosses festlegen und Reiseanbieter verpflichten, auf ihren Werbungen die Distanzen und den damit verbundenen CO2-Ausstoss zu deklarieren.