Umstrittene Schweizer Nationalpärke: Zwischen schützen und nutzen liegt der Teufel im Detail
"Die Zeit ist reif für neue Nationalpärke", titelte die Schweizer Naturschutzorganisation Pro Natura in ihrem Magazin im Januar dieses Jahres. In ihrem Themenschwerpunkt berichtet sie über die Projekte zur Errichtung neuer Nationalparks: 101 Jahre nach der Eröffnung des ersten Nationalparks auf dem Boden der Bündner Gemeinden Zernez, S-chanf, Scuol, Val Müstair und Lavin stünden die Chancen nicht schlecht, dass aus dem Parc Adula und dem Parco Nationale del Locarnese in absehbarer Zeit echte Nationalpärke würden.
Ein echter Nationalpark besteht aus einem Kern unberührter Wildnis und einer Umgebungszone, die zur nachhaltigen Nutzung freisteht. Die Naturentwicklung in der Kernzone dauert rund 20 bis 30 Jahre. Die Besitzer der Flächen in Kernzonen müssen für Nutzungseinbussen entschädigt werden.
In seinem Leitartikel schreibt Urs Tester, Zuständiger für das Dossier Nationalpärke: "Der entscheidende Faktor sind jedoch die Menschen in diesen Regionen. Menschen, die trotz Unsicherheiten überzeugt sind, dass ein Nationalpark eine gute Perspektive ist. Wenn diese Menschen die Chance packen wollen, sich für die Idee einsetzen und Freunde, Verwandte und Kollegen dafür begeistern, dann wird ein neuer Nationalpark Realität. Weil ich solche Menschen im Adula und im Locarnese kennen gelernt habe, bin ich überzeugt: Wir gründen einen neuen Nationalpark."
Nationalpärke: Eine innovative Idee, die Ängste schürt
Den vom Nationalpark überzeugten Menschen gegenüber stehen die UrheberInnen der Petition: "Bergregionen: Nicht nur schützen, auch nutzen": Die Schweizer Verbände der Hotellerie, Baumeister, Bergführer, des Tourismus, der Seilbahnen, Skischulen und Schneesportlehrer, der Pisten- und Rettungsdienste der Romandie und des Tessins sowie die Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete. Sie befürchten, dass mit zusätzlichen Schutzauflagen das Land in eine wirtschaftliche dynamische A-Schweiz und eine zu Naturreservaten "degradierte" B-Schweiz in den ländlichen Regionen und Beggebieten aufgeteilt werde. Es sei wichtig, die Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit der Bergbevölkerung zu stärken und die Arbeitsplätze in den ländlichen Regionen und Berggebieten zu erhalten und auszubauen. Bei der Abwägung seien die Nutzungsaspekte und die wirtschaftlichen Anliegen der Bergbevölkerung besser zu berücksichtigen.
Martin Hilfiker, Projektleiter des Parc Adula und Samantha Bourgoin, Projektleiterin des Parco Nazionale del Locarnese, wissen, dass es noch viel Überzeugungsarbeit braucht. Hilfiker erklärt gegenüber Pro Natura: "Unter den Kritikern ist die Angst weit verbreitet, dass es neue Regeln geben wird, die ihre Freiheit beschneiden. Dabei ist es so, dass der Prozess von unten nach oben geht und die Regeln nicht einfach von oben aufgezwungen werden. Entscheidend ist die Ausarbeitung der Park-Charta, über die dann abgestimmt wird. In unserem Fall rechnen wir mit den Abstimmungen Mitte 2016." Und Bourgoin erklärt im gleichen Interview: "Aus den Erfahrungen vom Nationalpark im Engadin weiss man, dass jeder Gast rund 160 Franken pro Tag in der Gegend lässt. Es gibt Berechnungen, die aufzeigen, dass für jeden Franken, den der Staat in einen Nationalpark investiert, sechs Franken an Umsatz generiert werden. Wenn wir davon ausgehen, dass in den Nationalpark Locarnese 3.6 Millionen Franken pro Jahr investiert werden, kommen wir auf einen induzierten Umsatz von 20 Millionen Franken. Aber das sind nur Schätzungen."
Regionale Naturpärke und Nationalpärke sind etwas völlig anderes
In den vergangenen Jahren sind 14 neue regionale Naturparks entstanden. Bei dieser Kategorie von Pärken sind die Interessen primär touristischer Natur, eigentliche Schutzbestimmungen bestehen nicht. Anders bei den Nationalpärken: Sie unterliegen klaren Schutzbestimmungen. Wildtiere dürfen nicht gejagt werden, wodurch sich die Bestände erholen. Weil sich die Menschen nur auf den vorgegebenen Wegen bewegen, verringern die Hirsche oder Steinböcke ihre Scheu und können von BesucherInnen oft von ganz nahe beobachtet werden.
Nach der Feier zum hundertjährigen Bestehen des ersten Nationalparks letztes Jahr zeigte sich Bundesrätin Doris Leuthardt jedenfalls beeindruckt: Im Rahmen der Nationalratsdebatte an der Herbstsession zur Erhöhung des jährlichen Kredits für die Pärke riet sie NationalparkskeptikerInnen, doch mit dem Gemeindepräsidenten von Zernez zu sprechen. Der am Nationalparkfest frohlockt: "Der Schweizerische Nationalpark wird für uns je länger, je wichtiger."