Umverteilung – Demokratie – Deglobalisierung
Die Finanzmarktkrise ist nur der aktuelle Ausdruck einer tiefen krisenhaften Entwicklung der Weltwirtschaft. Diese begann im Sommer 2007 in der USA im Immobilienbereich, führte in diesem Herbst 2008 zur Bankenkrise und zu einem Crash an der Börsen, welche das Funktionieren des globalen Kreditsystems fundamental erschüttert haben.
Wie kam es zur Krise?
Spätestens seit 1945 besetzen die USA in der Weltwirtschaft als Träger der liberalen Ideologie und des Freihandelsimperialismus eine hegemoniale wirtschaftliche und militärische Stellung.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR zu Beginn der 1990er-Jahre schien die US-Dominanz gar einen Höhepunkt zu erreichen. Zentrale Faktoren der hegemonialen Stellung der USA sind der Dollar als Leitwährung, abgestützt auf das wirtschaftliche Gewicht der USA und deren militärischen Vorherrschaft. Aus diesem imperialen Überlegenheitsbewusstsein heraus konnten sich seit Reagen die USA-Regierungen erlauben, ihre Bevölkerung über ihre Verhältnisse leben zu lassen. Das Leben auf Pump, der Überkonsum, die überdimensionierten Militärausgaben und die damit zusammenhängende Verschuldung wurden durch die Zahlungsbilanzüberschüsse der EU-Länder, Japans und – heute zunehmend – China und der erdölexportierenden Länder des Nahen Osten ermöglicht.
In der Krise der 1770er-Jahre wurden aber nicht nur die US-Hegemonie neu definiert, es hat sich als Reaktion auf die sozialen Kämpfe und Streiks Ende der 60er- und anfangs der 70er-Jahre und in einer Situation einer strukturellen Überkumulation und anwachsenden Massenarbeitslosigkeit des neoliberale politische Projekt durchgesetzt und damit ein neues Regime herausgebildet: Jenes der flexiblen Akkumulation. Es resultiert aus den neoliberalen Umstrukturierungen, insbesondere aus dem Abbau aller Beschränkungen für den Handelsverkehr, für Investitionen, Kapitaltransfers und Devisenhandel.
Diese Liberalisierung ermöglicht die weltweite Jagd nach den höchsten Profiten und heizte die Standortkonkurrenz an. Diese bietet optimale Möglichkeiten, am Standort Lohnrestriktionen, eine Disziplinierung der Gewerkschaften und damit die Verschiebung von den Lohneinkommen zu den Profiten und Gewinneinkommen durchsetzen. Ein Grundzug des Regimes der flexiblen Akkumulation ist so die Steigerung der Ausbeutungsrate durch Lohnflexibilisierung, Lohnrestriktion, Arbeitszeitverlängerung und Arbeitsintensivierung, Abbau bei den Sozialleistungen, Steuererleichterung für Reiche und Angriff auf die Gewerkschaften. Ziel ist eine Umverteilung von den Löhnen zu den Profiten und Gewinneinkommen und die folge davon sind eine Beschränkung des Massenkonsums und eine Ausweitung des Luxuskonsums.
Dritte Welt leidet unter Restrukturierung
Am härtesten waren die Folgen der neoliberalen Restrukturierung jedoch in den Ländern der Peripherie. Das neoliberale Regime führte hier in den 1980er-Jahren zur Verschuldungskrise, da die billigen Kredite, welche diesen Ländern in den 70er-Jahren gewährt worden waren, sich als Folge der US-amerikanischen Hochzinspolitik ab 1979 massiv verteuerten. Die Strukturmassnahmen des internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank, welche die Zinszahlungen der verschuldeten Länder sicherstellen sollten, trugen wesentlich zur Prekarisierung und Verarmung in diesen Ländern bei.
Die in ihrer Souveränität eingeschränkten und wirtschaftlich abhängigen Länder wurden sodann verstärkt zum Gegenstand einer "Akkumulation durch Enteignung". Grosse Profite werden gemacht, indem sich die multinationalen Konzerne die Ressourcen in diesen Ländern aneignen: Dabei geht es um Land, Wasser u.a.m. Die Enteignung wird abgesichert durch die zunehmende Verschärfung des Patentschutzes im sogenannten TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation WTO, ähnlich wie im England des 16. Jahrhunderts, als das den Gemeinden und den Bauern gestohlene Land von den adligen Grossgrundbesitzer eingehegt wurde (Enclosures). Zur Akkumulation der Enteignung gehören auch die Privatisierungen öffentlicher Infrastrukturen und Güter, die von andern geschaffen worden sind.
Überliquidität führt zu Spekulation
Durch solche Massnahmen konnten zwar die Profite auf das Niveau gesteigert werden, wie es vor dem Trendbruch der 70er-Jahre bestanden hatte; eine entsprechende Steigerung der Investitionsrate blieb aber aus. Die Schere zwischen Profiten und Investitionen ist ein grundlegender Trend, welcher die Merkmale der neuen Konstellation erklärt: Einerseits die chronische Tendenz zur Massenarbeitslosigkeit und zur Unterkonsumption aufgrund der eingeschränkten Massenkaufkraft, und anderseits die sogenannte "Finanzialisierung": Die Profite werden nicht mehr in die realen Produktionsprozesse investiert, sondern sie fliessen in die Spekulationsgeschäfte.
Auf Grund des überschüssigen Kapitals wuchsen der Finanzsektor massiv an und alles schien sich nur noch darum zu drehen, wie aus viel Geld noch mehr Geld gemacht werden kann, ohne dass überhaupt reale Arbeit geleistet oder investiert wird. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und die wachsende Bedeutung des Finanzsektors begannen die Realwirtschaft aber bald zu destabilisieren. Das neoliberale Regime führte zu immer heftigeren Finanz- und Wirtschaftskrisen, 1994 zur Krise in Mexiko, der sogenannten "Tequila-Krise", 1997 zur Asienkrise, 1998 zur Krise in Russland und Brasilien, 2001 zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Argentiniens und 2001/2002 zur Krise der New Economy. Wenn diese noch durch massive Zinssenkungen der US-amerikanischen Notenbank und durch den Kriegskeynesianismus, den Afghanistan- und Irakkrieg, rasch überwunden werden konnten, so scheint heute diese Politik an die Grenzen zu stossen.
Auswirkungen der Krise auf die Länder des Südens
Sicher werden die Länder der Peripherie von der Krise massiv betroffen werden. Einige von ihnen sind durch den IWF und die Weltbank zur Konzentrierung auf einseitige Exportstrukturen genötigt worden, was sie äusserst krisenanfällig macht. Diese Länder haben heute so mit sinkenden Rohstoffpreisen, Abzug von Kapital und zunehmend mit dem Rückgang der Rimessen, der Geldüberweisungen von EmigrantInnen ins Herkunftsland, zu kämpfen. Vorab in den armen Ländern werden sich die heute schon bekannten Probleme verschärfen wie die Hungerkrisen, die Energiekrisen und die Umweltkrisen. Anderseits begannen sich nach der Asienkrise von 1997/98 einige der betroffenen Ländern neu auszurichten: Sie trafen Massnahmen, um sich aus der Abhängigkeit der imperialistischen Länder zu befreien.
Erste Achse: Umverteilung des Reichtums
Eine radikale und demokratische Alternative muss entlang verschiedener Achsen entwickelt werden. Eine erste Achse beinhaltet die Umverteilung des Reichtums. Anstatt einen überdimensionierten Finanzbereich zu subventionieren, müssen Mittel zur Bekämpfung der Armut und der Prekarität und zur Erhaltung unserer natürlichen Umwelt eingesetzt werden. Wichtig ist eine Stärkung der Kaufkraft durch existenzsichernde Löhne, die Indexierung der Löhne sowie Sicherung und Ausbau der Renten der Sozialversicherungen. Frauen sind oft die ersten Opfer einer Wirtschaftskrise und daraus ergeben sich entsprechende Anforderungen an eine Politik in der Krise.
Zweite Achse: Ausbau der Demokratie
Eine zweite Achse betreffen Massnahmen zur Stärkung und zum Ausbau der Demokratie gegen die autoritären Tendenzen in der Krise. Mit staatlichen "Rettungsprogrammen" wetteifern die Finanzplätze um die Begrenzung der Verluste: Ohne Rücksicht auf demokratische Verfahren wird im Dienste der Aufrechterhaltung des Bankensystems, der Kapitaleigener und Manager letztlich tief in die Tasche der Steuerzahler gegriffen. Es ist ein Skandal, wenn heute von linker Seite solchen Programmen, wenn auch mit Vorbehalten, zugestimmt wird. Im Vordergrund muss vielmehr die demokratische Kontrolle des Kredits stehen, d.h. die Verstaatlichung der Grossbanken und ihrer demokratische Kontrolle.
Wenn Banken vor dem Bankrott gerettet werden müssen, so muss die Kontrolle der Bank an die Öffentlichkeit übergehen und das Management und die Grossaktionäre haben für die angerichteten Schäden aufzukommen. Eine Verstaatlichung hat entschädigungslos zu erfolgen, wie z.B. in der Verfassung vom Equador vorgeschrieben ist, welche die Verstaatlichung von privaten Schulden verbietet. Mit der öffentlichen demokratischen Kontrolle der Finanzwirtschaft und anderen Massnahmen gilt es, der Kapitalflucht, den Währungsspekulation im grossen Stil und den problematischen Kapitalverschiebungen grosser internationalen Banken und Fonds und deren Kreditblockaden einen Riegel zu schieben. Off-Shore-Finanzplätze sind zu schliessen, weil sie ermöglichen, Steuersysteme und eine demokratische Kontrolle des Finanzbereichs zu unterlaufen und damit den Abfluss von Kapital aus Ländern der Peripherie in eine Krise erleichtern.
Dritte Achse: Deglobalisierung
Eine dritte Achse beinhaltet deshalb Forderungen nach einer Deglobalisierung. Im Zentrum stehen dabei der Bruch mit den sogenannten Washingtoner Konsens und die Loslösung aus der Abhängigkeit von den imperialistischen Zentren, der USA und der EU. Jede Nation hat das Recht, ihre Entwicklungsziele selber zu definieren und anzustreben, unabhängig von Pressionen Internationaler Finanzinstitutionen und der Regierungen anderen Staaten.
Die Schulden der ärmeren Entwicklungsländer sind ersatzlos zu streichen und die Schulden anderer Länder der Peripherie sind während der Dauer der Krise mindestens zu sistieren. Zur Deglobalisierung gehören auch Kapitalsverkehrskontrollen, Massnahmen zur Stabilisierung des Währungssystems und Massnahmen zur Stärkung de nationalstaatlichen ökonomischen Handlungsfähigkeit.
Süd-Süd Kooperation ausbauen
Sehr wichtig für die Lockerung der Abhängigkeit von den imperialistischen Zentren sind die regionalen Integrationen und Kooperationen, wie sie heute in Lateinamerika angestrebt wird (wie z.B. UNASUR in Lateinamerika), um einen Kampf aller gegen alle und den Rückfall in reaktionäre Nationalismen zu vermeiden, wie sie sich in Europa abzeichnet. An der Konferenz der ALBA-Länder in Caracas im November 2008 beschlossen die Präsidenten Venezuelas, Boliviens, Equadors, Nicaraguas zusammen mit Vertretern Cubas und der Dominikanischen Republik die Einführung einer gemeinsamen Währung und eines Finanzausgleichs zwischen ihren Ländern. Ein regionaler Zahlungsausgleich oder eine regionale Alternative zum IWF, wie ein geplanter Fondo del Sur, würde die Abkoppelung vom Dollar-Wallstreet-Regime erleichtern.
Internationale und bilaterale Freihandelsabkommen von Ländern des Nordens mit Ländern der Peripherie hingegen haben dagegen keine Priorität; sie sind, wenn sie schädliche Folgen für die Bevölkerung haben, zu bekämpfen. Falls die internationalen Finanzinstitutionen – Internationaler Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisationen – nicht grundlegend demokratisiert und auf andere Ziele ausgerichtet werden, ist der Rückzug aus diesen Institutionen, wie ihn verschiedene Länder Lateinamerikas vollzogen haben und darin Venezuela folgend, der richtige Weg. Auf der Tagesordnung steht auch, wie es Bolivien tat, der Rückzug aus dem Investitionsgericht der Weltbank, dem sogenannten CIADI. Die Finanzinstitutionen sind als imperialistisches Instrument des Nordens zu neutralisieren und der Aufsicht und Kontrolle des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO zu unterstellen. Einem Abschluss der DOHA-Runde im Rahmen der Welthandelsorganisation kann nur zugestimmt werden, wenn sie, wie ursprünglich versprochen, tatsächlich zur Stärkung der peripheren Ökonomien auf dem Weltmarkt führt.
Hans Schäppi war von 1978 als Gewerkschaftssekretär, zuerst bei der Gewerkschaft GTCP und dann bei der GBI, verantwortlich für die Industrie, insbesondere die Chemie; ab 2000 vorab tätig in der internationalen Gewerkschaftsarbeit und dabei Besuch der Weltsozialforen. Seit 2004 ist er pensioniert und in der internationalen Solidaritätsarbeit tätig. Er ist Präsident des Solifonds. Der Artikel "Umverteilung – Demokratie – Deglobalisierung" erschien im Afrika-Bulletin Mai/Juni 2009. Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Weitere Informationen unter: www.afrikakomitee.ch