Das Reisen ist ein Vergnügen, das allen Völkern gemein ist, die Saudi-Araber jedoch betreiben es auf sehr besondere Art. Als reiselustigstes Volk im ganzen arabischen Raum vergnügen sie sich im Ausland fern der sozialen Fesseln und Tabus, denen sie in der Heimat ausgesetzt sind. Wenn sei reisen, lassen sie sämtliche Verbote hinter sich und Frauen wie Männer geniessen gleichermassen ein Gefühl der Freiheit.

So ist es nicht erstaunlich, dass sich die Kosten saudischer Auslandsreisen jährlich auf 30 Milliarden Rial belaufen (ca. 6,3 Milliarden Euro). Als Reiseziele für ihren Jahresurlaub wählen saudische Familien vor allem Ägypten, Libanon, Dubai, Marokko und Syrien. Wirtschaftlich rangieren diese Länder zwar unter Saudi-Arabien, aber das Leben ist dort freier. Wer sich zur saudischen Feriensaison in einem jener Länder aufhält, kann erleben, was den saudischen Tourismus prägt. Gleich im Flugzeug, das die Touristen zu ihrem Urlaubsort bringt, sieht man, wie die saudischen Frauen unmittelbar nach dem Start ihr schwarzes Gewand und ihren Gesichtsschleier, der ihr gesamtes Antlitz verdeckt, ausziehen. Darunter kommt die neueste Mode zum Vorschein, Miniröcke und Jeans, ausserdem ein perfektes Make-up. Auf dem Rückweg erlebt man den umgekehrten Effekt: Sobald sie sich wieder in saudischem Hoheitsgebiet befinden, hüllen sich die Frauen in das schwarze Gewand und sind wieder bereit, sich den strengen gesellschaftlichen Traditionen unterzuordnen.
Der Ortswechsel verändert auch das Äussere der Männer. Im Urlausgebiet lassen sie sich gerne einen Haarschnitt mit Färbung gemäss der internationalen Mode verpassen. Meist haben sie schon im Voraus einen Termin in einem der örtlichen Schönheitssalons reserviert. Von ihrem üblichen Erscheinungsbild ist nichts mehr zu erkennen. Den „Thaub“, das offizielle Männergewand, ersetzen sie tagsüber durch sportliche, bunte Freizeitkleidung bekannter westlicher Marken, abends dagegen durch schicke Herrenanzüge.
Die jungen saudischen Männer sind darauf bedacht, ihre Autos mit in den Urlaub zu nehmen, oder sie mieten vor Ort eine Luxuslimousine, um die Einheimischen zu beeindrucken. Gerne kreuzen sie mit saudischen Nummernschildern durch die Strassen, um ihren Reichtum vorzuführen und besonders die Mädchen zu beeindrucken, wobei der Reichtum manchmal nur vorgespielt ist. Die Frauen sind ein Hauptgrund für die Auslandsreisen der jungen Saudier. In den Urlaubsländern gibt es weniger Einschränkungen, und die Distanz zwischen den Geschlechtern ist geringer, als dies in Saudi-Arabien der Fall ist. Die meiste Zeit verbringen die jungen Männer in Nightclubs und Luxushotels.
Inzwischen häufen sich die Klagen über Eheschliessungen von Saudiern mit einheimischen Frauen während dieser kurzen Reisen. Gross ist die Zahl und tragisch das Schicksal der aus diesen Beziehungen hervorgegangenen Kinder ohne Väter. In Saudi-Arabien wurde deshalb die Organisation "Freundschaftsbande" gegründet, die sich um die Urlaubskinder kümmert und versucht, den jungen Männern die Folgen ihres Handelns bewusst zu machen. Infolge ihres Verhaltens haben die saudischen Männer in den arabischen Nachbarländern einen Ruf erworben, der alles andere als gut ist.
Die saudischen Frauen nutzen die Ferien dazu, das für sie in ihrer Heimat geltende Fahrverbot zu umgehen und einen Führerschein zu machen. Ebenfalls typisch sind Wasserpfeife rauschende Saudierinnen in Cafés, ein in Saudi-Arabien undenkbarer Anblick. Auch Kinobesuche gehören zu den Wünschen, die sich die Saudi-Araber in ihren Ferien erfüllen. Kinos sind in Saudi-Arabien verboten, deswegen machen sich viele saudische Familien am Wochenende zu einem Besuch ins nahe Bahrein auf, um einen Film zu sehen. Die liberale Presse in Saudi-Arabien hat viel darüber gespottet – die Auslandsreisen der Saudier verfolgt sie insgesamt kritisch. Aber im Inland gibt es für die Ferien keine echte Alternative. Zwar wird dem inländischen Tourismus viel Aufmerksamkeit gewidmet, aber ans ausländische Vergnügen reicht er einfach nicht heran. Man mag es kurios finden, dass der Projektleiter für inländischen Tourismus, Prinz Sultan ben Sulayman, kürzlich zugab, seinen Urlaub im Ausland zu verbringen. Er rechtfertigte dies mit der Feststellung, der Tourismus in seinem Land sei nicht industriell genug. Man müsse den Tourismus in Saudi-Arabien besser organisieren, um mit dem Ausland konkurrieren zu können. Das Wachstum des Inlandtourismus basiert laut Prinz Sultan auf den Traditionen und Bräuchen des Landes und auf der islamischen Scharia, denn für so manchen Saudi-Araber ist das Wort „Tourismus“ zu einem Synonym für schlechtes Verhalten geworden.
Haji Jabir wurde 1976 in Massawa, Eritrea, geboren. Er hat Kommunikationswissenschaften studiert und arbeitet als Journalist für die saudi-arabische Zeitung Al Madina. Haji Jabir lebt in Dschidda, Saudi-Arabien.

Stefanie Gsell übersetzte den Text aus dem Arabischen. "Urlaubskinder" erschien in: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven, Ausgabe II/2009, www.ifa.de/pub/kulturaustausch