Zu einer raschen Rückkehr in die alte Tourismusroutine ist es bisher nicht gekommen. Und ich traue mich zu sagen: glücklicherweise. Durch diese Zwangspause, die in Österreich nur durch ein kurzes Intermezzo des nationalen Sommertourismus unterbrochen wurde, hatten wir Zeit und Gelegenheit, so richtig in der Krise anzukommen. Das ist zwar zugegebenermassen ausgesprochen unangenehm, führt aber auch dazu, dass wir unsere Angst, unsere Unsicherheit und unser Nichtwissen, wie es weitergehen wird, zulassen können. Und das ist wiederum wichtig, um die richtigen Fragen stellen zu können, die uns tatsächlich näher an Lösungen heranführen. Denn wir Menschen brauchen Zeit und Abstand, um Krisen etwas abgewinnen zu können.

Auch ich habe im letzten Jahr einige Phase der Veränderung durchlebt und durchlebe sie noch immer. Ich durfte viele wertvolle Gespräche mit Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Reisebranche führen und dabei beobachten, wie der Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit im eigenen Unternehmen mehr und mehr zum Ausdruck gebracht wurde. Zwar beherrschen immer noch zahlreiche Mythen und Vorurteile die Nachhaltigkeitsdiskussion, es wird aber auch immer klarer, dass ein Zurück zur "Normalität" für mehr und mehr Führungskräfte und Unternehmen nicht mehr möglich ist, weil man erkennt, dass es auch der direkte Weg zurück zur Krise ist. Diese Erkenntnis liegt in der tiefen und bewussten Betrachtung des Tourismus und der bisher vorherrschenden Dynamiken.

Wir hatten und haben jetzt die einmalige Chance, den gesamten Tourismus quasi in Vollnarkose zu untersuchen und uns in eine ganze Branche hinein zu fühlen, und viele haben diese Gelegenheit genutzt. Wie bei einem medizinischen Scan wurde plötzlich jede Ader und Verbindung sichtbar, die gesunden und diejenigen, die Schmerzen verursachen. Die tiefe Verwurzelung des Tourismus in der Welt und der Weltwirtschaft ist immer noch schmerzhaft spürbar. Natürlich liegt es nahe, rasch nach Wegen zu suchen, die so schnell wie möglich den status quo vor dem Lockdown wiederherstellen. Doch muss das wirklich sein? Oder tut die getrennte Verbindung zwar kurzfristig weh, gibt uns aber die Chance, unsere Beziehungen zu prüfen und neu zu knüpfen? Diese Fragen werden in der Branche nun immer öfter gestellt. Das freut mich persönlich sehr und motiviert mich, Mut, neue Ideen und Freude an mehr Nachhaltigkeit in der Branche zu verbreiten.

Soziale Innovation im Tourismus

"Der wahre Reisende hat keinen festgelegten Weg, noch will er ans Ziel" (Lao-tse). Dieser alten Weisheit folgt die Reise durch dieses Buch auf den Spuren der ergebnisoffenen Wirkungsinnovation. Tourismus ist komplex und nicht kompliziert. Er ist ein dichtes Geflecht aus Beziehungen und Begegnungsräumen, das mit Methoden aus der Produktion nicht zu managen ist. Das zeigen die zahlreichen unerwünschten Nebenwirkungen der Tourismusindustrie.

Kerstin Dohnal: Soziale Innovation im Tourismus. Warum nachhaltige Wirkung Achtsamkeit und Ethik braucht.188 Seiten. Books on Demand, 2020. CHF 57.90. ISBN-13: 9783752632828 

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Gerade jetzt braucht es die Nachhaltigkeit im Tourismus mehr denn je, und dieser Gedanke kommt langsam an. Wenn wir dieser Krise tatsächlich etwas abgewinnen wollen, dann müssen wir jetzt dafür sorgen, dass wir gemeinsam eine starke Stimme für die Nachhaltigkeit haben, und zwar jenseits des eigenen Existenzkampfes und der kurzfristigen Lösungen für schnellen Profit danach. Jetzt, wo „business as usual“ ohnehin nicht funktioniert und wir uns den Alternativen widmen können.

Basis dafür muss ein tiefes Verständnis für den Tourismus und seine Rolle als weltweites Bindeglied zwischen Menschen, Natur und Wirtschaft sein. Was es braucht, ist ein neues Bewusstsein für den Tourismus und für die Rolle des Tourismus in der Welt, sowohl als weltweit grösster Wirtschaftssektor als auch als grösstes Netzwerk und beziehungsfähiges Ökosystem. Und es braucht ein starkes Gefühl dafür, wie wir die Branche nach dem neuerlichen Start gestalten möchten. Dieses neue Bewusstsein muss über die Grenzen des bisherigen Nachhaltigkeitsverständnisses hinausgehen. Es muss tiefer gehen und bis in die kleineste Verzweigung spürbar sein. Genauso und bis dahin, wo wir jetzt gerade die schmerzhaften Auswirkungen des Shutdowns und des „zero tourism“ spüren. Wenn wir den Mut aufbringen jetzt hinzuschauen, dann wird die Kraft des nachhaltigen Tourismus sich entfalten.

Mein Ziel ist es, diese Kraft – unsere Kraft im Sinne des SDG #17-Partnerschaften zur Erreichung der Entwicklungsziele – zu bündeln und sie als starke Stimme deutlich hörbar zu machen. Ich lade alle sehr herzlich ein, dabeizusein und mitzugestalten, neue Arten von Beziehungen zu knüpfen und die Fühler überall dahin auszustrecken, wo es gerade neue Perspektiven und Denkansätze gibt.  

Der Mythos der 100%

Für mich ist Nachhaltigkeit eine Herzensangelegenheit. Und wie bei allen Herzensdingen ist die Frage nach der Perfektion nicht wirklich relevant. Deshalb bin ich immer wieder überrascht, wenn ich Menschen begegne, die Nachhaltigkeit für unerreichbar, kompliziert und elitär halten. Viele gehen davon aus, dass man, um nachhaltig zu sein, alles richtig machen muss, dass also nur 100% zählen und sonst nichts. Es sorgt immer wieder für Erstaunen, wenn ich argumentiere, dass dieser Gedanke an sich schon nicht nachhaltig ist. Nachhaltigkeit ist ein Weg, kein „ganz oder gar nicht“-Summenspiel. Jeder Schritt in die richtige Richtung ist wertvoll und zählt. Und ich kann aus Erfahrung sagen, dass jeder Schritt Freude bringt und Lust auf mehr macht.

Für mich ist der erste Schritt zur Nachhaltigkeit die innere Haltung. Das ist die wohl größte Einstiegshürde, denn ich bin gefordert, meine Glaubenssätze zu überprüfen und vielleicht in Frage zu stellen. Ich lasse (wieder) zu, meinem Bauchgefühl mehr Platz einzuräumen und erlaube mir, die großen Fragen nach dem sinnvollen Beitrag meiner Arbeit zu stellen.

Konkrete Aktionen zu planen ist für die meisten der einfachste Schritt. Da gibt es zahlreiche Möglichkeiten von der Mülltrennung im Büro über den Verzicht auf nicht unbedingt notwendige Dienstreisen, mehr Fokus auf Qualität bei Dienstreisen, die sorgfältige Auswahl von Vertragspartnern, kreative Methoden zur Einbeziehung der Mitarbeitenden bei Innovationen, Unterstützung von Projekten und Kooperation mit Organisationen im Bereich Menschenrechte, Umwelt und Kinderschutz bis hin zu Zertifizierungen. Dabei empfiehlt sich ein Orientierungsworkshop mit einer Fachperson, damit man einen guten Überblick bekommt und sich nicht im Dschungel der Möglichkeiten verirrt. Ich kann aber versprechen, dass sich für alle und jeden Betrieb der passende Weg finden lässt, auf dem man mit Freude und Erfolg zu mehr Nachhaltigkeit findet. Die 100% anzustreben ist sicherlich ein guter Vorsatz, aber wir dürfen uns von der Idee verabschieden, dass wir nur nachhaltig sein können, wenn wir sofort die 100% liefern – es sei denn, wir suchen immer noch nach einer Ausrede, um einen anderen Weg einzuschlagen. 

Meine persönlichen Tipps für eine nachhaltigere Tourismuszukunft:

  • Tieferes Bewusstsein erlangen. Lernen wir uns selbst, unsere Systeme und unsere Rollen darin besser kennen. Werden wir uns auch unserer Rolle im grösseren Gefüge, dem lebendigen Ökosystem des Tourismus, bewusst und handeln wir im Sinne eines guten Miteinanders.
  • Loslassen von alten Mustern, damit neue entstehen und sich entfalten können. Den Mut haben, Nicht-Wissen zuzulassen und Intimität herzustellen, um neue Beziehungen eingehen zu können. Tourismus ist ein beziehungsfähiges Ökosystem. Nutzen wir es als solches. Und nutzen wir unser kollektives Bauchgefühl und unsere Schwarmintelligenz.
  • Alte Weisheiten und unsere menschliche Natur zur Datensammlung nutzen. Wir Menschen sind soziale Wesen und stehen als solche im Austausch miteinander. Wenn wir diese Kanäle auch für den Tourismus nutzen und als EntscheidungsträgerInnen hinhören und die Informationen aus alternativen Kanälen und Wissensquellen aufnehmen, können wir bessere Entscheidungen treffen.
  • Abstand gewinnen, durchatmen und die richtigen Fragen stellen. Nicht nur in einer Krise, sondern in allen neuen Situationen ist es völlig normal, sich einmal überwältigt zu fühlen, für ein Problem keine Lösung parat zu haben und Zeit zu brauchen, um in der Situation anzukommen. Gönnen wir uns einen Moment zum Durchatmen, damit wir die richtigen Fragen stellen können, die uns näher an die Lösungen bringen.
  • Sich ausreichend Zeit für Veränderungsprozesse nehmen. Die Corona-Krise ist für die Branche eine grosse Herausforderung. Ich nehme sie allerdings auch als grosse Chance wahr, die wir nicht vergeuden dürfen. Wir haben die Krise zu früh als beendet erklärt, nur um uns nicht mit grösseren Veränderungen auseinandersetzen zu müssen. Krisen brauchen Zeit. Das Gute daran sieht man erst mit dem gebührenden Abstand und nach einer Phase des Loslassens. Durchleben wir bewusst die Phasen der Veränderung – das Leugnen, die Wut, das Verhandeln, die Resignation und die Akzeptanz. Wir werden nicht um die Veränderung herumkommen. Sie ist unsere treueste Begleiterin auf all unseren Wegen.

In diesem Sinne: Viel Freude auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit im Tourismus!  

Über Kerstin Dohnal

Kerstin Dohnal ist Gründerin von destination:development, sowie freie Mitarbeiterin von NFI-respect in Wien. Aktuell ist von ihr "Soziale Innovation im Tourismus. Warum nachhaltige Wirkung Achtsamkeit und Ethik braucht" erschienen. Das Buch bietet, was ein gutes Leseabenteuer ausmacht: brandaktuelle Zahlen und Fakten aus 2020, Bilder und Geschichten, Hürden und HeldInnen sowie praktische Tipps und Methoden für den Weg zu einem Tourismus, der allen guttut.

Zu einer raschen Rückkehr in die alte Tourismusroutine ist es bisher nicht gekommen. Und ich traue mich zu sagen: glücklicherweise. Durch diese Zwangspause, die in Österreich nur durch ein kurzes Intermezzo des nationalen Sommertourismus unterbrochen wurde, hatten wir Zeit und Gelegenheit, so richtig in der Krise anzukommen. Das ist zwar zugegebenermaßen ausgesprochen unangenehm, führt aber auch dazu, dass wir unsere Angst, unsere Unsicherheit und unser Nichtwissen, wie es weitergehen wird, zulassen können. Und das ist wiederum wichtig, um die richtigen Fragen stellen zu können, die uns tatsächlich näher an Lösungen heranführen. Denn wir Menschen brauchen Zeit und Abstand, um Krisen etwas abgewinnen zu können.

Auch ich habe im letzten Jahr einige Phase der Veränderung durchlebt und durchlebe sie noch immer. Ich durfte viele wertvolle Gespräche mit Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Reisebranche führen und dabei beobachten, wie der Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit im eigenen Unternehmen mehr und mehr zum Ausdruck gebracht wurde. Zwar beherrschen immer noch zahlreiche Mythen und Vorurteile die Nachhaltigkeitsdiskussion, es wird aber auch immer klarer, dass ein Zurück zur „Normalität“ für mehr und mehr Führungskräfte und Unternehmen nicht mehr möglich ist, weil man erkennt, dass es auch der direkte Weg zurück zur Krise ist. Diese Erkenntnis liegt in der tiefen und bewussten Betrachtung des Tourismus und der bisher vorherrschenden Dynamiken.

Wir hatten und haben jetzt die einmalige Chance, den gesamten Tourismus quasi in Vollnarkose zu untersuchen und uns in eine ganze Branche hinein zu fühlen, und viele haben diese Gelegenheit genutzt. Wie bei einem medizinischen Scan wurde plötzlich jede Ader und Verbindung sichtbar, die gesunden und diejenigen, die Schmerzen verursachen. Die tiefe Verwurzelung des Tourismus in der Welt und der Weltwirtschaft ist immer noch schmerzhaft spürbar. Natürlich liegt es nahe, rasch nach Wegen zu suchen, die so schnell wie möglich den status quo vor dem Lockdown wiederherstellen. Doch muss das wirklich sein? Oder tut die getrennte Verbindung zwar kurzfristig weh, gibt uns aber die Chance, unsere Beziehungen zu prüfen und neu zu knüpfen? Diese Fragen werden in der Branche nun immer öfter gestellt. Das freut mich persönlich sehr und motiviert mich, Mut, neue Ideen und Freude an mehr Nachhaltigkeit in der Branche zu verbreiten.