«Veränderung unter Einbezug der Betroffenen ist möglich»
Vor knapp einer Woche war in den Zeitungen das Foto einer jungen Demonstrantin in Tunesien zu sehen. Sie hält mit beiden Händen ein Plakat hoch, auf dem es sinngemäss heisst: "Wir haben genug, mischen wir uns ein!"
Wir sind gegenwärtig Zeugen einer aussergewöhnlichen Entwicklung. In zahlreichen Ländern, namentlich in Teilen des arabischen Raumes, in Nordafrika, im Nahen und mittleren Osten, gehen die Menschen auf die Strasse und melden sich lauthals zu Wort: weil sie mitreden wollen, weil sie Ihre Zukunft mitgestalten und mitbestimmen wollen, weil sie überhaupt eine Zukunft haben wollen. Mit anderen Worten: Weil sie ihre Beteiligung einfordern – ihre: PARTIZIPATION.
Dieses " … mischen wir uns ein" der jungen Frau in Tunesien heisst ja nichts anderes, als dass die Leute endlich gefragt werden möchten; dass breite Teile der Bevölkerung nicht länger gewillt sind, alles hinzunehmen. Dass nicht länger akzeptiert wird, wenn der Staat, das Regime, "die da oben" einfach ungefragt schalten und walten. Was die Sache ernst macht: die Männer und Frauen, die ihre gesellschaftliche Partizipation in diesen Tagen einfordern, sind bereit, ihr Leben zu riskieren, in Tunesien, in Ägypten und dramatisch gerade in Libyen.
Wenn heute in diesen Ländern die Menschen um ihre politische Beteiligung, oft auch um elementare Menschenrechte kämpfen, um die Beteiligung an der Neuordnung ihrer Gesellschaft, ihrer Staatsstrukturen, um Partizipation im Grossen also, so hat Partizipation doch immer auch eine andere Seite, eine kleinere, eine vielleicht lokale. Wenn eine Ordnung einmal etabliert ist, bleibt Partizipation dennoch wichtig. Es reicht ja nicht, wenn wir einmal alle vier Jahre wählen können, das zeigen die Bürgerproteste auch in diesem Land um Grossprojekte wie zum Beispiel Stuttgart 21. Wenn Beteiligte sich zu Wort melden, kommt es nicht drauf an, ob es dabei um einen Stausee geht oder um Ölförderung, um Goldabbau, die Abholzung von Wäldern oder um eine rigoros durchgesetzte touristische Erschliessung. Entscheidend für die Frage der Partizipation ist, ob die betroffene Bevölkerung überhaupt einverstanden ist, und wenn ja, ob sie an den jeweiligen Prozessen beteiligt wird.
Ich komme wie Sie hören aus der Schweiz. In meinem Heimatland ist die Partizipation der Bevölkerung institutionell fest verankert. Wir können uns in der Gemeinde, im Kanton (auf Länderebene) und auf Bundesebene mit Volks- und Bürgerentscheiden zu zahlreichen Fragen wichtiger und oft auch unwichtigerer Art äussern. Das kann manchmal auch groteske Züge annehmen, etwa wenn eine Mehrheit der Stimmenden (womit wir den Bogen zur islamischen Welt wieder geschafft haben), ein Minarettverbot in die Verfassung schreibt. So viel Mitbestimmung kann zwar manchmal etwas lästig sein, aber um nichts in der Welt möchte ich die Möglichkeit missen, an der Entwicklung der Gesellschaft, in der ich lebe, beteiligt zu werden.
Warum aber sind wir nun so erstaunt über die derzeitigen Proteste und Aufstände jenseits des Mittelmeers? Haben wir in Europa oder den sogenannten alten Demokratien etwa alleine das Recht gepachtet, mit Bürgerprotesten auf die Strasse zu gehen und Rechte einzufordern, die Beteiligung an der gesellschaftlichen Entwicklung – oder noch mal: Partizipation? Warum sind wir verblüfft, dass dies plötzlich anderswo auch so sein kann? Haben wir vielleicht viel zu lange nicht genau hingeschaut in diesen Ländern? Ich fürchte ja.
Die ITB-Veteranen unter Ihnen wissen sicherlich noch (das habe ich mir von Klaus Betz sagen lassen), dass sich Ende der achtziger Jahre, hier auf der ITB, die "Gruppe der wachsamen Goaner" Gehör verschafft hat. Mit der Forderung: Die Urlauber aus Deutschland mögen doch bitte zuhause bleiben, weil ihr verschwenderischer Lebensstil in den Luxus-Hotels so viel Wasser verbrauchen würde, dass für die Einheimischen nicht genügend übrig bleibe. Es hat Jahre gedauert, bis die Tourismus-Industrie solche Interessenskonflikte verstanden und ernst genommen hat. Doch in den meisten Fällen und viel zu lange sind solche Probleme eher unter Umwelt-Gesichtspunkten betrachtet worden. Dass die Ausnutzung oder gar Übernutzung von Ressourcen in Urlaubsländern zu sozialen Spannungen führen kann, mit diesem Phänomen hat sich lange Zeit kaum jemand ernsthaft befasst. Mit wenigen Ausnahmen:
Mitte der neunziger Jahre hat sich rund um den Studienkreis für Tourismus und Entwicklung eine Gruppe von Menschen versammelt, für die es höchste Zeit war, sich mit den sozialen und den ethischen Fragen im Tourismus auseinander zu setzen. Es waren Entwicklungsfachleute, Forscherinnen, Pfarrer, Journalistinnen, Beamte aus Ministerien und auch – ja, das darf gesagt werden – zukunftsorientierte Vertreter der Reisebranche. Sie müssen sich nur einmal anschauen wer da bis heute in der TO DO!-Jury sitzt und sich engagiert.
Der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung, der bis heute und seit vielen Jahren diesen TO DO!-Wettbewerb ausrichtet, hat schon 1995 die klare Feststellung getroffen: "Die Zukunft des Tourismus wird nicht zuletzt davon abhängen, ob er sich für die Bevölkerung in den Zielgebieten in einer sozialverantwortlichen Form entwickelt." So lautete damals der Kernsatz, aus dem sich der TO DO!-Wettbewerb entwickelt hat. Es war der Ruf nach einer zukunftsfähigen, das heisst nachhaltigen und partizipativ angelegten Tourismusentwicklung. Und heute ist das Begriffspaar social responsibility in aller Munde. Hier auf der ITB gab es gestern nun zum dritten Mal den CSR-Day – den Corporate Social Responsibility Day; und weltweit setzen sich unterdessen mehr und mehr Organisationen für ein sozialverantwortliches Handeln im Tourismus ein. "Fair Trade in Tourism" beispielsweise oder "Responsible Tourism" und – wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist – nicht zuletzt auch die "Schweizerische Stiftung für Solidarität im Tourismus", die ich hier vertreten darf und die zum TO DO!-Preis ein Preisgeld beiträgt.
Heute jedenfalls, 16 TO DO!-Wettbewerbsrunden später, zeigt sich, dass es richtig war, sich von Anfang an für eine sozialverantwortliche Tourismusentwicklung einzusetzen. Zu Beginn konnte man noch sagen: "there is still a lot TO DO!" – so kam der Wettbewerb übrigens zu seinem Namen – heute wissen wir: a lot has been done. Davon zeugen alle bisher ausgezeichneten TO DO!-Gewinner, aber auch diejenigen TO DO!-Gewinner aus Guatemala, Tadschikistan und Thailand, die wir hier in wenigen Minuten auszeichnen werden. Interessant ist, dass alle drei diesjährigen Preisträger aus einer Krisensituation heraus zum Neuanfang gezwungen waren – aber diesen Neuanfang eben nicht mit den alten Mitteln und im alten Stil begonnen haben. Sie haben von Anfang etwas praktiziert, was noch lange nicht überall selbstverständlich ist: Sie haben die Menschen mit einbezogen und nicht über die Köpfe derjenigen hinweg entschieden, die es am meisten betrifft: die lokale Bevölkerung. Sie haben die Partizipation der Betroffenen, die uns so wichtig ist, zum wesentlichen Teil ihres Projektes gemacht. Und damit sind sie für uns Beispiele und Vorbilder für eine Entwicklung, die wir mit unserem Wettbewerb fördern möchten. Sie lassen uns an die Zukunft glauben, auch an die Zukunft des Tourismus. Und sie bestärken uns in der Überzeugung, dass Veränderungen unter Einbezug der Betroffenen möglich sind, für eine bessere Welt im Kleinen und im Grossen.