Erschreckende Zahlen zu verschwundenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Europa nannte Europol-Stabschef Brian Donald in einem Interview mit der britischen Zeitung The Observer. Seinen Angaben zufolge sind mindestens 10’000 Kinder nach ihrer Ankunft in Europa verschwunden. Allein in Italien sollen 5’000 Kinder nicht mehr auffindbar sein, in Schweden fehlen Informationen zum Aufenthaltsort von 1’000 Flüchtlingskindern. Donald warnt vor einem gut organisierten, paneuropäischen kriminellen Netzwerk, das sich auf die Ausbeutung von Flüchtlingen spezialisiert hat. Er bestätigte ausserdem, dass Europol Berichte über sexuelle Ausbeutung von Kindern in Europa erhalten habe. Besonders in Deutschland und Ungarn seien grosse Zahlen von Kriminellen mit Bezug zur Ausbeutung von Flüchtlingen festgenommen worden. Beunruhigend ist auch die grosse Überschneidung von Netzwerken, die sowohl Menschen nach Europa schmuggeln als auch Menschenhandel zum Zweck von sexueller Ausbeutung betreiben.
Diese Problematik wird auch von ECPAT Organisationen in anderen Ländern Europas bestätigt. In Österreich werden aktuell 474 minderjährige Flüchtlinge vermisst; da das Verschwinden oft nicht gemeldet wird, ist anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl um einiges höher ist. Auch in Belgien verschwinden rund 10% der minderjährigen Flüchtlinge nach der Registrierung.
27 Prozent der Flüchtlinge, die während des letzten Jahres in Europa ankamen, sind minderjährig. Sie stellen eine leicht angreifbare Gruppe dar und sind damit am meisten davon bedroht, Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung zu werden.
Diese Zahlen zeigen deutlich, wie fatal die Entscheidung ist, die Verbesserung des Schutzes von Flüchtlingskindern nicht in das Asylpaket II aufzunehmen. Geplant gewesen waren Mindeststandards wie getrennte und abschliessbare Duschen und Toiletten für die Unterbringung von Kindern in Flüchtlingsunterkünften festzulegen. Ausserdem sollten Heime, in denen Kinder untergebracht sind, über eine Betriebserlaubnis nach dem Kinder- und Jugendhilferecht verfügen. Der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs bezeichnete das Fehlen von Massnahmen zum Schutz minderjähriger Flüchtlinge als grobfahrlässig und wies darauf hin, dass immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch in Flüchtlingsunterkünften bekannt würden. Es ist zu prüfen, ob die beschlossenen Regelungen gegen geltendes Europarecht verstossen, da die EU-Aufnahmerichtlinien besondere Vorkehrungen für die Massenlager und Wohnungen sowie speziell geschultes Personal für den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen erfordern.
ECPAT kritisiert, dass der beschlossene Entwurf den Fokus auf die Verschärfung des Asylrechts legt, anstatt sich mit der angebrachten Behandlung von Flüchtlingskindern zu beschäftigen.
ECPAT Deutschland e.V. fordert Entscheidungsträger auf, diese Fakten und Zahlen zur Kenntnis zu nehmen und politische Regelungen in Bezug auf Flüchtlingskinder daran anzupassen. Es ist unerlässlich, dass ein besonderes Augenmerk auf den Schutz von unbegleiteten und begleiteten minderjährigen Flüchtlingen gelegt wird. Hierfür ist es notwendig, den Asylprozess den Bedürfnissen von teilweise schwer traumatisierten Kindern anzupassen und diesen insbesondere in Flüchtlingsunterkünften sichere Aufenthaltsorte und Anlaufstellen zu bieten.