Basel, 03.09.2014, akte/ Eine der unpopulärsten Äusserungen des Vietnam-Krieges kam von einem US-amerikanischen Militär, der sagte, die Armee habe ein Dorf zerstören müssen, um es zu retten. Heute zerstört ein freies Vietnam seine schönsten Regionen im Namen der Entwicklung, speziell der Tourismusentwicklung.
Nicht viele Menschen, die den Pongour Wasserfall in der Provinz Lan Dong besuchen, sind sich im Klaren darüber, dass dieser des Nachts versiegt. Einst von König Bao Dai als schönste Kaskade des Südens gelobt, war der Wasserfall ab 2008 wegen des Baus eines Wasserkraftswerks am Oberlauf des Flusses oft ausgetrocknet. 2011 entschied dann die Verwaltung des Wasserfalls, Wasser aus nahegelegenen Gewässern in den Wasserfall zu pumpen, doch bald schon musste eine kostengünstigere Alternative her.
"Wir mussten ein Reservoir bauen, um den Wasserfall tagsüber zu speisen", sagt Truong Thi Dang, Direktor der Dat Nam Tourism Company, die den Wasserfall verwaltet. Die einst imposanten Pongour-Fälle mit einer ursprünglichen Gesamtbreite von 100 Metern und siebenstufigen 40 Metern Fallhöhe liegen 50 Kilomenter südlich der Resort-Stadt Da Lat. Die französischen Kolonisatoren sahen darin Indochinas majestätischsten Wasserfall.
Umso schockierender ist es, dass diese natürliche Pracht heute auf eine künstlich betriebene Anlage  reduziert ist, die nur bei Tag funktioniert. Andere Wasserfälle der Provinz hat Experten zufolge ein noch schlimmeres Schicksal ereilt: die totale Austrocknung. Versiegende Wasserfälle seien nur ein Beispiel für die wenig nachhaltige Entwicklung Vietnams, wo viele berühmte, natürliche Sehenswürdigkeiten auf äusserst "destruktive Art" genutzt würden.
Der Vizedirektor des Tourism Development Institute, Pham Trung Luong, meint, das Problem der Abwertung vieler Tourismusdestinationen sei auf verschiedenen Konferenzen bereits vielfach diskutiert worden. "Trotzdem zeichnet sich keine Besserung ab", kritisiert Pham und fügt hinzu: "Im Gegenteil: Es wird sogar noch schlimmer." Pham führt zahlreiche Gründe für seine düstere Prophezeiung an; darunter das geringe Bewusstsein für den Schutz von Tourismusdestinationen unter TouristInnen und in der Tourismusbranche, schlechtes Management auf lokalem Level und die fehlende Durchsetzung relevanter Regulierungen.

In den Bergen

Luongs Kritik lässt sich leicht anhand verschiedener beliebter Destinationen im Land verifizieren, vor allem in den bergigen Gegenden wie dem zentralen Hochland und der Stadt Sa Pa im Norden. Einst waren die Gougah- und Lien Khuong-Wasserfälle berühmte Sehenswürdigkeiten auf dem Weg von Ho Chi Minh Stadt nach Da Lat. Aufgrund der unnachhaltigen Entwicklung der Gegend sind sie heute ausgetrocknet.
Ein Beamter des Ministeriums für Kultur, Sport und Tourismus von Lam Dong, der lieber anonym bleiben möchte, bemerkt hierzu, das Ministerium habe der übergeordneten Behörde bereits mitgeteilt, man solle das Zertifikat zurückziehen, welches die beiden Wasserfälle als nationale Sehenswürdigkeiten auszeichne. "Die Wasserfälle sind aufgrund von Abholzung, Wasserkraftwerken und anderer Bautätigkeit in der Region ausgetrocknet", sagt der Beamte. "Die Bauten behindern den Wasserfluss und stören die natürliche Umgebung der Wasserfälle."
In Da Lat wurden von einer schlechten Entwicklungspolitik und deren Umsetzung bereits verschiedene Sehenswürdigkeiten in Mitleidenschaft gezogen. Betonbauten verschandeln die natürliche Schönheit von Thung Lung Tinh Yeu (Love Valley) und Doi Mong Mo (Dream Hill). An den Cam Ly-Fällen eröffneten 2010 eine 2000-Zuschauer-Bühne und ein Restaurant, die einen Grossteil des Naturspektakels verdecken. Darüber hinaus bereitet die zunehmende Wasserverschmutzung der Verwaltung der Wasserfälle Kopfschmerzen. "Das Wasser am Oberlauf fliesst durch Wohngebiete in Da Lat, wo viele BewohnerInnen ihren Müll ungehindert hinein entsorgen, was zu erntszunehmender Verschmutzung führt", sagt Ta Hoang Giang, Direktor der Da Lat Tourism Company.
Auch Sa Pa in der nordwestlichen Provinz Lao Cai wird in ähnlicher Weise "zerstört". Phan Dinh Hue, Direktor der Tourismusagentur Vong Tron Viet (Viet Circle) in Ho Chi Minh Stadt, berichtet, er habe kürzlich mit ausländischen Partnern einen Ausflug nach Sa Pa unternommen und festgestellt, dass dies kurz davor sei, sämtliche natürliche Schönheit einzubüssen. "Die Lastkraftwagen für den Bau eines nahegelegenen Wasserkraftwerkes haben die Strassen beschädigt. Und das Wasser wird auch in Kürze verschwinden (sobald die Dämme gebaut sind)", so Phan. "Die Menschen schlachten Sa Pa aus, als würden sie einen ganzen Baum fällen, nur um an dessen Früchte zu gelangen."

Am Strand

Sichtbarer noch ist die nicht nachhaltige Tourismusentwicklung an Vietnams Stränden. Mit einer Küstenlinie von 3’260 Kilometern und mehr als 4’000 Inseln hat Vietnam ein reiches Küsten-Tourismus-Potential, doch auch Vietnams Strände sind Opfer zerstörerischer Entwicklungen geworden. Nur 40 von 100 europäischen TouristInnen in Vietnam besuchten laut dem Quang Ninh Tourismusministerium im Jahr 2012 die Bucht Ha Long. Erst kürzlich zum neuen Naturweltwunder erkoren, ist das Wasser der Bucht heute von den vielen Abfällen der Touristen- und Cargoschiffe verschmutzt. Ha The Tien, Ingenieur auf einem Schiff in Ha Long, kritisiert, dass die meisten Schiffe ihren Müll und ihr Abwasser inklusive der Toiletten direkt ins Meer entliessen. "Jedes Passagierschiff lädt zwischen 2’000-3’000 Litern Abwasser am Tag ab. Mit 500 Tourismusschiffen am Tag fliessen hier bis zu 1.5 Millionen Liter ungefiltertes Abwasser pro Tag in die Bucht", so Ha. Zudem haben die farbenfrohe Beleuchtung und die Stegkonstruktionen die natürliche Schönheit der Stalaktiten und den Kalkstein in den beliebten Thien Cung- und Dao Go-Höhlen in Ha Long beschädigt.
Der rasende Tourismusausbau in Mui Ne in der zentralsüdlichen Provinz Binh Thuan hat auch dessen natürliche Schönheit verdorben. Dem Direktor der Lua Viet Company in Ho Chi Minh Stadt, Nguyen Van My, zufolge, entwickelt sich der Tourismus in Mui Ne vietnamweit am schnellsten: "Früher gingen wir bei der Ortschaft Phan Thiet an einem natürlichen Strand spazieren. Heute sind alle Kokosnusspalmen dort abgeholzt, um Platz für Neubauten zu machen." Auch der Fluss Hong sei der schnellen, zerstörerischen Entwicklung zum Opfer gefallen – ausgetrocknet aufgrund des Baus von Resorts in der direkten Umgebung, fügt er hinzu.
Dabei sei vorgeschrieben, dass Resortbauten nicht mehr als 25 Prozent der Fläche in der Provinz ausmachen dürften und einen Mindestabstand von 50 Metern zum Meer einhalten müssten, erklärt der Direktor des Baudepartements von Binh Thuan, Tran Anh Tuan. Die meisten hielten sich jedoch nicht an diese Vorgaben. Ein riesiges Problem in Mui Ne ist zudem die Umweltverschmutzung. So berichtet ein Mitglied der Umwelt-Polizeitruppe in Binh Thuan, das anonym bleiben möchte, viele Resorts leiteten ihre Abfälle und ihr Abwasser direkt ins Meer. "Jeden Tag müssen wir Tonnen von Müll entlang der Küste auflesen", erzählt er.     

Keine Sehenswürdigkeit mehr sehenwert

Ein französischer Tourist habe ihm gesagt, er würde nie wieder nach Nha Trang kommen, nachdem er die Betonbauten rund um ein Resort auf einer Insel dort gesehen habe, erzählt Hue, Direktor von Viet Circle und fügt hinzu: "Er sagte, Touristen wollten an naturbelassenen Orten sein, doch die Menschen hätten die Natur dort zerstört." Seiner Meinung nach hätten die Investoren und relevanten Behörden beim Ausbau des Tourismussektors dessen Auswirkungen auf die Umwelt gar nicht bedacht.
Auch Luong gibt zu, dass die Tourismusbranche sich für den Schutz der Umwelt nicht verantwortlich fühle: "Die natürliche Landschaft ist vielerorts zerstört, Gebäude versperren die Sicht. Dazu kommt das allgegenwärte Problem der Umweltverschmutzung und der unhygienischen Toiletten." Abschliessend stellt er fest: "Bald gibt es für die Touristen nichts mehr zu sehen ausser kaputter Natur."