Einige haben genug von der Konsumgesellschaft. Sie möchten etwas tun, das wirklich Sinn macht. Einer davon, nennen wir ihn Tom, aus einer australischen Kleinstadt, unterrichtete im Jahr 2007 Flüchtlinge. Er lernte die Ungerechtigkeiten und die harte Linie der Regierung ihnen gegenüber kennen, und meinte: "Den längsten Teil meines Lebens war ich stolz Australier zu sein. Doch jetzt hat es die Regierung geschafft, dass ich darüber traurig bin." Eine Studentin aus Basel, hier Louise genannt, reiste dieses Jahr nach Calais ins informelle Flüchtlingscamp und machte sich als Köchin nützlich. Auch bei ihr schärfte diese Solidaritätsaktion den Blick auf die politischen Spiele auf dem Buckel von Menschen, die alles verloren haben.
Manche Frauen und Männer, die in einem Zwischenjahr bei einem Freiwilligen- oder Voluntourismus-Einsatz erstmals vom üblichen selbstbezogenen Leben Abstand nehmen, erleben so etwas wie eine Offenbarung, die ihre Weltsicht verändert. Aufgrund des Einblicks in komplett andere Realitäten überdenken sie ihr Leben und was ihnen daran wichtig ist. Sie empören sich, werden politisch, genügsam vielleicht – und dadurch zu Sand im Getriebe der Konsumgesellschaft.

Die am schnellsten wachsende Nische im Tourismus

Doch längst sind Zwischenjahre, Karriereauszeiten und damit verbundene Freiwilligen-Einsätze selbst zu einem Teil des auf Profitmaximierung ausgerichteten Systems geworden. Der Voluntourismus, die Verbindung von Urlaub mit einem Freiwilligeneinsatz, ist eine der am schnellsten wachsenden Nischen in der Tourismusbranche und innerhalb der letzten rund 20 Jahre zu einem Milliardengeschäft geworden. In einer repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstituts Mintel vor vier Jahren erklärte über ein Drittel der Befragten, sie würden Voluntourismus gerne ausprobieren.
Die VoluntouristInnen sind also in der Regel nicht Rebellinnen oder Aussteiger. Es gehört heute zum guten Ton, im Lebenslauf mehr als Schulwissen ausweisen. Durch Reisen und die Mithilfe in Umweltschutz- oder sozialen Projekten in entfernten Ländern können Erfahrungen und Kompetenzen wie Jugendanimation, Forschungsassistenz oder interkulturelle Kompetenz im Curriculum geltend gemacht werden. Das adelt die Erstwelthelfer zudem mit dem Status des Weltenbürgers und der Weltenbürgerin.

Eigennützige oder altruistische Motive

Ob sie das wirklich sind, ist eine andere Frage. Forscher bezweifeln, dass Voluntourismus-Einsätze automatisch zu einem grösseren sozialen Bewusstsein und zu interkulturellem Verständnis führen. Sie belegen, dass bestehende Stereotypen oft sogar verstärkt werden. Gerade bei sogenannt "seichten" VoluntouristInnen, die nur ein, zwei Wochen Einsatz leisten, dominieren eigennützige Motive wie die Reisedestination vor altruistischen. Nicht von ungefähr wird der Voluntourismus als Beispiel des "White Saviour Complexes" kritisiert: Die Weissen sehen sich in einer Art Messias-Rolle. Sie helfen den farbigen "Anderen", den hilflosen Schwächlingen, die sich nicht selber helfen können. In der Messias-Rolle fühlen sich die Weissen besser als mit dem Selbstverständnis des brutalen Eroberers und Ausbeuters von Menschen und Ressourcen über Jahrhunderte von Sklaverei, Kolonialismus und Kapitalismus.

Helfen: schwerer als man denkt

Einmal nach Brasilien jetten, um dort eine Woche lang die Sichtung bedrohter Vogelarten festzuhalten? Nur: Bis der Laie die Arten unterscheiden gelernt hat, ist die Woche um. Gedient wäre den Tieren besser, würde der Flieger seltener benutzt. Oder in Südafrika bei der Aufzucht angeblich verlassener Junglöwen helfen? Diese werden häufig wild gefangen und später für die Gatterjagd freigegeben – eine Tierquälerei. Einmal kurz in einer Primarschule in Mali oder Kambodscha den niedlichen Kleinen Englisch beibringen? Aber tun das nicht besser die einheimischen Lehrkräfte? Oder gleich ins Waisenhaus, um vernachlässigten Kindern endlich mal Liebe und Zuneigung zu schenken? Da müssen die Kinder alle zwei, drei Wochen wieder erleben, verlassen zu werden, und sie entwickeln ein gestörtes Bindungsverhalten – oder sie werden gar Opfer sexueller Übergriffe von Voluntouristen, welche die Gelegenheit des engen und oft unbeaufsichtigten Kontakts ausnutzen.
Es ist gar nicht einfach, geeignete Einsatzmöglichkeiten für VoluntouristInnen zu finden. Einerseits wollen diese etwas erleben fürs Geld. Andererseits sollte der Einsatz dem Projekt dienen oder zumindest nicht schaden. Seriöserweise müsste dafür mit den Projektverantwortlichen laufend evaluiert werden, welche Art von Freiwilligen es für welche Arbeit wann und wie lange braucht. Motivation und Qualifikation der Freiwilligen müssten geklärt werden. Doch in der Realität läuft es anders: In der Studie "Vom Freiwilligendienst zum Voluntourismus", letztes Jahr von ECPAT Deutschland, der Schweizer Fachstelle arbeitskreis tourismus & entwicklung und Tourism Watch/Brot für die Welt herausgegeben, stellen die AutorInnen eklatante Mängel bei der Abklärung der KandidatInnen fest. Ausserdem fehlen die Kinderschutzmassnahmen, obwohl so viele Angebote die Zusammenarbeit mit Kindern vorsehen.

Besser als "seichte" Hilfe ist Nachhaltigkeit beim Reisen

Was tun? Wer wirklich in einem anderen Kulturkreis zu einer nachhaltigen Entwicklung beisteuern will, soll sich dafür auch Zeit nehmen und die nötigen Recherchen sowie die Vor- und Nachbereitung des Einsatzes auf sich nehmen. Wer einfach mal ein bisschen schauen möchte, hält besser nach guten Reiseangeboten Ausschau, von denen die Lokalbevölkerung profitiert. Für Kurzeinsätze sei auf bewährte Angebote in der Nähe hingewiesen, wie etwa der gute alte Landdienst oder die Teilnahme an der Traubenlese.