Reisende, die Freiwilligeneinsätze in Waisenhäusern leisten, möchten etwas für die Kinder und die örtlichen Gemeinschaften tun. Doch in den oft sehr emotional geführten Diskussionen über den Nutzen oder Schaden, den solche Kurzzeiteinsätze bewirken, fehlt die Stimme der betroffenen Kinder. Als ich mich mit den Auswirkungen von Kurzeinsätzen in Waisenhäusern beschäftigte, fiel mir bald auf, dass die Perspektive der am direktesten betroffenen Gruppe der örtlichen Gemeinschaft, nämlich jene der Kinder, überhaupt nicht einbezogen wurde.

Die Perspektive der Kinder

Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention versteht Kinder und Jugendliche als aktive soziale Subjekte, die das Recht auf Beteiligung und Ermächtigung haben. Dieses Übereinkommen geht davon aus, dass die Kinder die Hoffnung der Zukunft sind. Sie sind Teil einer nachwachsenden Generation und streben danach, sich selbst und ihre Länder weiterzuentwickeln. Wenn wir die der Kinderrechtskonvention zugrunde liegenden Normen und Werte teilen, verstehen wir die Kinder als Hauptanspruchsgruppe von Freiwilligeneinsätzen in Waisenhäusern und Kinderbetreuungseinrichtungen oder Strassenkinderprojekten.
Man könnte denken, dass die Kinder die Gesellschaft von Freiwilligen geniessen – schliesslich handelt es sich um arme Waisen. Sie sind in der Tat aufgedreht, wenn neue Freiwillige ankommen. Warum sollten sie sich nicht auf die Ankunft neuer Spielgefährten freuen, die sie mit Bonbons, Schulutensilien, Kleidern, Buntstiften, Obst und Fotos überhäufen? Es macht bestimmt Spass, dauernd von einem unversiegbaren Strom von Freiwilligen unterhalten und beschenkt zu werden – oder etwa nicht?
Von diesen Überlegungen ausgehend wollte ich herausfinden, wie es in der Praxis um diese Werte steht. Ich reiste nach Ghana und befragte Kinder in einem Waisenhaus, das Plätze für VoluntouristInnen anbietet, nach ihren Erfahrungen. Was ich von ihnen erfuhr, verstärkte meine Sorge um die mangelnde Nachhaltigkeit solcher Einsätze und bestätigte meine Befürchtung, dass Kurzeinsatzleistende die emotionale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen können.

Die negativen Auswirkungen des Voluntourismus auf die Kinder

Die Kinder verbinden mit den Freiwilligen in erster Linie ein Geben und Nehmen. Dabei fällt auf, dass sie mit der Zeit gewisse Erwartungen haben und Strategien entwickeln, um die Freiwilligen dazu zu bringen, ihnen etwas zu geben oder mit ihnen einen Ausflug zu machen. Traurigerweise ist diese Art von Beziehung ein Ausdruck des wachsenden Grabens zwischen den wohlhabenden "HelferInnen" und den "bedürftigen" Begünstigten und die Unterstützung durch die Freiwilligen besteht nur in einzelnen guten Taten.
In den Augen der Kinder sind die Freiwilligen, die in ihr Leben eindringen, um sie zu beschenken und Zeit mit ihnen zu verbringen, weiss, meist jung, weiblich und studieren. Aus dem Blickwinkel der Freiwilligen sind die Kinder arm, aber glücklich. Wie im Lotto haben im Leben eben einige Glück und andere nicht. Die Beschäftigung mit den Kindern hilft den VoluntouristInnen nicht, die strukturellen Ursachen der Armut zu verstehen.
Theoretisch lernen die Kinder durch den Umgang mit den Freiwilligen einiges über deren Länder und erweitern so ihren Horizont. Die Kinder entwickeln ein extrem positives Bild der Freiwilligen und der "ach so wunderbaren ‹westlichen Welt’". Im Waisenhaus, in dem ich meine Studie durchführte, zeichneten die Kinder oft die Flaggen der Heimatländer der Freiwilligen, schöne Orte mit gutherzigen Menschen, Autos und Flugzeuge.
Zudem träumten viele davon, nach Europa zu reisen und dort einen "ordentlichen" Beruf zu lernen. Es war zwar schön zu sehen, welche grossartigen Träume sie hegten, aber beim Gedanken, dass sie sich ums Auswandern drehten, musste ich unweigerlich an das Problem des "brain drain" denken. Wenn die Zukunft eines Landes von seinen künftigen Generationen aufgebaut wird, sollten diese Kinder nicht zu selbstbewussten jungen Menschen heranwachsen, die das Potenzial haben, Grosses zu leisten? Und sollten sie nicht davon träumen, ihre eigene Gemeinschaft und ihr Land weiterzubringen?
Viele BefürworterInnen des Voluntourismus behaupten, Freiwilligeneinsätze würden den kulturellen Austausch fördern, aber stimmt das? Meine Forschungen brachten zutage, dass die Kinder durch diese Art von Austausch vor allem stereotype positive Bilder des Westens entwickelt haben und sich so letzten Endes den Graben zwischen der gastgebenden Gemeinschaft und den Gemeinschaften der Freiwilligen vergrösserte.

Was bleibt nach der Abreise der Freiwilligen?

Für die Freiwilligen war es eine Erfahrung zwischen Schulabschluss und Studienbeginn, eine Möglichkeit, ein anderes Land zu entdecken und sich selbst zu entwickeln. Sie betrachteten ihren Einsatz als wertvoll und als eine abgeschlossene Erfahrung. Aber was geschieht mit den Kindern, die sie zurücklassen?
Das ständige Kommen und Gehen von verschiedenen Voluntouristengruppen hinterlässt bei den Kindern die Erfahrung von Instabilität, eines ständigen Wechsels von Bezugspersonen und jeder Menge uneingelöster Versprechen, weil viele sagen, sie kämen zurück, sich aber nicht mehr melden und schon bald von neuen Freiwilligen ersetzt werden.
Voluntourismus schafft zwar die Möglichkeit eines kurzzeitigen sozialen Austausches, doch vergrössert er das soziale Netz der Kinder nicht und verschafft ihnen auch keinen besseren Zugang zu Informationen. Er vermag auch keine tragfähigen Brücken zwischen verschiedenen Gemeinschaften zu bauen und verhilft den Kindern nicht zu einer emotionalen Unterstützung, die es ihnen ermöglichen würde, sich zu gesunden Menschen zu entwickeln, die eine hoffnungsvolle Zukunft vor sich haben.
Wenn Sie Gutes tun wollen, überlegen Sie gründlich, ob Sie einen Freiwilligeneinsatz mit Kindern im Ausland machen wollen. Eine motivierte Person kann auch vor ihrer eigenen Haustür vieles bewirken. Es gibt auch in unserer "ach so wunderbaren ‹westlichen Welt’" Suppenküchen, verletzliche und traumatisierte Kinder, Unterkünfte für Obdachlose, Sommerlager und vieles anderes mehr. Und wenn Sie "ab ins Ausland" wollen, ohne Schaden anzurichten und die emotionale Entwicklung von Kindern zu gefährden, unternehmen Sie eine Rucksackreise.
Hanna Tabea Voelkl führte im Rahmen ihres Masterstudiums "Kinder, Jugendliche und internationale Entwicklung" an der Brunel Universität in London eine qualitative Fallstudie in Ghana durch, deren Schwerpunkt die Erfahrungen von Kindern in einem Waisenhaus bildeten, das ausländische VoluntouristInnen aufnimmt. Nach Abschluss ihres Studiums beschloss sie, nicht in der Entwicklungszusammenarbeit tätig zu sein, sondern in ihrer deutschen Heimat zu arbeiten, ohne potenziell Schaden anzurichten. Sie arbeitet zurzeit als Sozialarbeiterin in einem Heim für verletzliche und traumatisierte Kinder.

Neue Petition gegen Waisenhaustourismus

Am 22. Oktober hat die britische tourismuskritische Organisation Tourism Concern eine Petition gegen Waisenhaustourismus lanciert. Darin werden Regierungen aufgefordert, gegen den Waisenhaustourismus vorzugehen, der skrupellose Geschäftsleute dazu bringt, Kinder von ihren Familien zu trennen und sie in vorgeblichen Waisenhäusern interessierten Freiwilligen und TouristInnen als Attraktion anzubieten.
Tourism Concern ruft Reiseveranstalter ebenso wie Freiwilligenorganisationen auf, ganz von der Vermittlung von Freiwilligen und UrlauberInnen in Institutionen mit gefährdeten Kindern abzusehen und appelliert auch an die UrlauberInnen, sich nicht auf entsprechende Angebote und Ausflüge einzulassen. Sie können die Petition* unterzeichnen. 

Neue Petition gegen Waisenhaustourismus

Am 22. Oktober hat die britische tourismuskritische Organisation Tourism Concern eine Petition gegen Waisenhaustourismus lanciert. Darin werden Regierungen aufgefordert, gegen den Waisenhaustourismus vorzugehen, der skrupellose Geschäftsleute dazu bringt, Kinder von ihren Familien zu trennen und sie in vorgeblichen Waisenhäusern interessierten Freiwilligen und TouristInnen als Attraktion anzubieten.
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