Basel, 12.09.2010, akte/ 
fairunterwegs: Uravu wurde in Thrikkaipetta aktiv zu einer Zeit, da die auf den Export ausgerichtete Monokulturen-Landwirtschaft durch den Zerfall der Preise in der Krise steckte. Der Abschluss verschiedener Freihandelsabkommen in den Jahren 2001 bis 2006 hat die Konkurrenz und damit die Krise verschärft. Leute wanderten aus den Dörfern ab. Wie seid ihr eingestiegen?
Sivaraj: Bevor wir das Uravu-Bambusprojekt starteten, machten wir uns viele Gedanken: In Thrikkaipetta gab es praktisch keinen Bambus mehr, die Ökologie des Gebiets war geschädigt, der Boden erodierte. Wir sahen eine Chance im Anbau von Bambus-Mischkulturen. Wir wollten Bambus anpflanzen, Produkte entwickeln, Leute ausbilden und den Marktzugang schaffen.
Dazu war handwerkliches Know-how nötig. Das traditionelle Handwerk ist ökologisch und gäbe der traditionellen Industrie einen Schub. Aber es ist am Aussterben. Wo gibt es heute zum Beispiel noch Goldschmiede? Wo sind alle diese Handwerker geblieben? Wir haben uns gefragt, ob man das traditionelle Handwerk wiederbeleben kann. Wenn nicht, hat es keine Existenzberechtigung mehr. Es darf nicht zur Museumsattraktion verkommen, denn es geht um das Überleben von Menschen, nicht von Technik.
Wo habt ihr die Handwerker gefunden?
Wir führten hitzige Diskussionen über die Kasten-/Klassenproblematik. In Indien kann der Klassenwiderspruch nicht unabhängig vom Kastensystem diskutiert werden, das ganze soziale Geschehen hängt davon ab. Wir suchten 20 Leute aus den traditionellen Bambushandwerkerfamilien, die wir für unser Bambusprojektausbilden konnten. Aber viele sagten: "Über Jahrhunderte hatten wir jetzt einen niedrigen gesellschaftlichen Stand. Hätten wir Geld gehabt, um unsere Kinder studieren zu lassen, wären wir besser gestellt. Wenn Bambus wirtschaftlich so interessant ist, warum arbeitet ihr Studierten nicht selber damit? Warum sollten wir euren Job für 40 Rupien erledigen?" – Ein schlagendes Argument. Also suchten wir nach Leuten, die weniger als 40 Rupien verdienen – und wurden bei den Hausfrauen fündig: Sie haben gar keinen Lohn. Wir bildeten sie aus, später kamen noch mehr Leute ohne Einkommen dazu. Die Frauenfrage war angesprochen: Die Frauen der Bambuswerkstatt arbeiteten manchmal auch nachts wenn grosse Bestellungen anstehen. Dazu mussten sie den Mann oder Sohn als Begleitung mitnehmen. Langsam änderte sich das Bild: Man weiss jetzt, dass auch ehrbare Frauen nachts unterwegs sind. Auch das Image der Bambusarbeiterinnen hat sich gewandelt, es hat auch schon einige Ausstellungen von Bambushandwerk in Delhi und anderen Grossstädten im In-  und Ausland gegeben.
Vom Bambusprojekt hat sich die Entwicklung auf andere Bereiche ausgedehnt…
Ein Problem in Wayanad ist, dass es kaum Jugendliche hat. Nur wenige der 15-17jährigen sind noch im Dorf. Alle andern gehen in die Stadt. Die Farmen werden nicht mehr effizient bewirtschaftet. Also verkaufen die Leute ihre Farm an die Tourismusbranche. Wir überlegten uns, wie wir auf diese Herausforderung antworten können. Wie konnten wir die Landwirtschaft wiederbeleben. Wenn ein Farmer sein eigenes Landstück bearbeitet, funktioniert es nicht, dazu sind die Landstücke zu klein. Es braucht eine Diversifizierung in z.B. Früchteverarbeitung, Milchwirtschaft, Fischerei, nebst dem traditionellen Anbau. Wir sahen eine Lösung in Fruchtbäumen: Papaya, Jackfrucht, Passionsfrucht, Mango, Javaäpfel (Rosenäpfel) und Bananen aller Arten und Grössen. Und wir überlegten uns, wie wir die Früchte weiter verarbeiten können. So veranstalteten wir ein Jackfrucht-Festival, wo 68 Produkte vorgestellt wurden. Wir haben Verarbeitungseinheiten von mittlerer Grösse mit angepassten Technologien geschaffen. Themen waren die Hygiene, die Frage der richtigen Verarbeitungsmenge und der Grösse von Verarbeitungseinheiten für das Dorf oder das Problem des Sammelns und der Lagerung von Jackfrucht-Samen.
Welche Rolle spielt der Community Based Tourism für die Entwicklung des Dorfes?
Auch der Tourismus ist eine Klassenfrage: Die höhere Gesellschaftsschicht hat Zugang zu diesem Wirtschaftszweig, weil sie weiss, was die Fremden brauchen. Wir aber wollten einen Tourismus, bei dem sich alle unternehmerisch beteiligen können. Zwischen den Leuten, die sich bei uns engagieren, und denen bei der Tourismus-NGO „Kabani-the other direction“ gibt es viele Synergien und Zusammenarbeit in diesem Bereich. Wir stehen im engen Austausch. Vor eineinhalb Jahren wollten zwei Reiseagenturen, die mit Kabani verbunden sind, in unser Dorf kommen. Wir wurden angefragt, ob wir für die Unterkunft sorgen können. In Thrikkaipetta begannen wir mit fünf Homestays. Die Familien wussten nichts über Tourismus, sie mussten alles neu lernen. Nicht das ganze Dorf kann beim Tourismus mitmachen. Wenn alle mitmachen wollen, funktioniert es nicht da sich die Dorfstruktur gänzlich verändert. Andererseits kann man auch nicht gesetzlich bestimmen, wer mitmachen darf und wer nicht. Also sollte der Tourismus nur eine ergänzende Einkommensquelle sein. Wir verdienten bis heute in Thrikkaipetta 700’000 Rupien (15’500 SFr.) mit dem Tourismus. Davon geht die Hälfte an die Homestays, 25 Prozent gehen an die Organisation Uravu für die Gemeindeentwicklung und 25 Prozent gehen an Kabani. Zusätzlich verdienen auch noch der Taxifahrer und die Bambus HandwerkerInnen.
Die Regierung von Kerala hat den Anspruch, die Tourismusentwicklung dieses Bundesstaats verantwortungsvoll und nachhaltig zu gestalten. Sie spricht von "Responsible Tourism". Andere NGOs sind da kritisch. Was meinen Sie dazu?
Im Jahr 2000 machten wir zusammen mit der tourismuskritischen NGO Equations eine Studie zur Tourismusentwicklung in Wayanad. Diese Studie kam zum Schluss, dass ein Beeinflussen und Steuern notwendig ist, da die Ausweitung des Tourismus nicht gestoppt werden kann. Wir haben das Gefühl, nur die Art beeinflussen zu können, während die Würfel für den Ausbau des Tourismus längst gefallen sind.

Trotzdem glaube ich, die Regierung macht nicht alles falsch. Dr. Venu V., Sekretär und somit Verantwortlicher von Kerala Tourism, hat durchaus ein Verständnis für soziale Anliegen. Von allen Departements der Regierung in Kerala ist das Tourismusdepartement das am besten informierte. Es sitzen auch gute Leute in von der Regierung zugezogenen Beratungskomitees und Expertengruppen, teils mit durchaus patriotischen Gefühlen, die Kerala auf nachhaltige Weise entwickeln wollen. Es hätten jedoch sicherlich mehr kritische NGOS in diese Komitees einbezogen werden können. Dies hätte zu einer besseren Balance geführt und "Responsible Toursim" mehr Schlagkraft gegeben.
Denn die "Responsible Tourism"-Strategie ist nur eine Strömung im Denkprozess zu Tourismus in Kerala. Es gibt andere gut vernetzte Interessengruppen im Tourismusbereich mit einflussreichen politischen und wirtschaftlichen Verbindungen. Die Tourismuspolitik der Regierung in Kerala basiert auf Beeinflussung und Interaktion zwischen diesen gegensätzlichen Strömungen und Interessengruppen. Es scheint uns, dass Gruppierungen, die einen "non-responsible", nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Tourismus propagieren, im Moment die Oberhand gewinnen hinsichtlich Tourismusentwicklung in Kerala.
Uravu bietet Einsätze für Freiwilligentouristen an. Was erwartet ihr von ihnen?
Für uns geht der Freiwilligentourismus in eine politische Richtung. Es ist nicht unser Hauptziel, dass TouristInnen kommen und ein bisschen arbeiten, glücklich sind und wieder heimkehren. Uns ist die andere Seite ebenso wichtig. Wir sprechen vor allem InderInnen und besonders Leute aus Kerala an. Wir wollen ihnen zeigen, was ländliche Entwicklung bedeutet und wie das Gemeindewesen gestärkt werden kann. Es geht darum der Dorfbevölkerung zu zeigen, dass es sich lohnt in die ländliche Entwicklung zu investieren anstatt in die Städte abzuwandern. Wenn TouristInnen kommen, um zu sehen wie die Leute hier leben, bestätigt dies unsere Argumente. Entwicklung kann überall geschehen.
Habt ihr Wünsche oder Ansprüche an Gäste aus dem Westen?
Grundsätzlich haben die Leute hier das Gefühl, dass alles, was die Fremden tun, gut sein muss. Wir wünschen uns, dass sich die Gäste aus dem Westen auf gleicher Augenhöhe mit den Leuten aus dem Dorf austauschen und mit ihnen leben. Das entmystifiziert das koloniale Bild des Europäers als dem immer Wichtigeren, Klügeren und Mächtigeren, und ein neues Selbstvertrauen gegenüber den Europäern wächst bei den Leuten im Dorf. Wir könnten es nie zulassen, dass TouristInnen den DorfbewohnerInnen mit einer herablassenden Haltung begegnen. Wir wollen einen Tourismus, bei dem die Gäste den Dorfbewohnern von Mensch zu Mensch begegnen.