Von der Notwendigkeit zur Leidenschaft: Die Geschichte des Wanderns
Matteo Baldi: Wandern ist Volkssport – ich kenne kaum Menschen, die noch nie wandern waren.
Stefan Petter: Das geht mir auch so, zumindest wenn ich an meine Bekannten denke, die in der Schweiz leben. Wer hierzulande in den letzten hundert Jahren zur Schule gegangen ist, wurde – Schulreisen sei Dank – zwangsläufig zum Wanderer. Wandern ist aber nicht nur zum Volkssport, sondern längst auch zu einem Teil der kulturellen Identität geworden. Die Wanderlust beschränkt sich auch nicht auf die Einheimischen, viele Zugezogene lassen sich davon anstecken.
MB: War das schon immer so?
SP: Wandern als Freizeitbeschäftigung ist eine Erscheinung der jüngeren Vergangenheit. Lange Zeit waren, bis auf wenige Ausnahmen, nur jene Menschen zu Fuss unterwegs, die sich kein Transportmittel leisten konnten. Und schon gar nicht taten sie es zu ihrem Vergnügen, sondern weil sie eine Strecke zurücklegen mussten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, oder weil sie auf Pilgerreise waren oder auf der Flucht. Wandern als Freizeitbeschäftigung war in dieser Zeit eher selten und den wohlhabenden Bevölkerungsschichten vorbehalten. Mit Wanderbeschreibungen angefangen hat man in der Aufklärung. Später wanderten dann vor allem die Romantiker, wobei diese oft über die Sehnsucht nach der «unverbrauchten» Landschaft den Weg zu sich selbst suchten. Johann Wolfgang von Goethe lässt herzlich grüssen.
MB: Wann eignete sich eine breite Bevölkerungsschicht das Wandern an?
SP: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden, inspiriert von alpenbegeisterten Engländern, zahlreiche Gebirgsvereine gegründet, u. a. im Jahr 1863 der Schweizerische Alpenclub. Wandern zum Vergnügen blieb aber in den meisten Fällen eine elitäre Angelegenheit. Von Volkssport kann man also mit Sicherheit noch nicht sprechen. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Wandern auch in breiteren Bevölkerungsschichten zu einem beliebten Freizeitvergnügen. Eine wichtige Rolle spielte dabei, neben dem wachsenden Wohlstand, die Sehnsucht nach intakter Natur als Antwort auf den Lärm und den Dreck, die im Gefolge der Industrialisierung ständig zunahmen. Es entstanden zahlreiche Naturfreunde-Bewegungen. Das waren zuerst eher bürgerlich geprägte Heimatvereine, später kamen auch Wanderbewegungen mit sozialistischem Hintergrund dazu. In den 1930er Jahren wurde dann der Verband Schweizer Wanderwege gegründet, der im Gegensatz zum SAC keinen primär alpinistischen Fokus hatte (und hat), sondern sich an ein «gewöhnliches» Wanderpublikum richtete. Wandern als Volkssport ist somit eine Erscheinung der letzten ca. hundert Jahre.
MB: Mich ereilt beim Wandern stets das Gefühl, die Geschichte sei deutlich präsenter als bei anderen Aktivitäten. Du setzt dich als Wanderleiter bei Per Pedes Bergferien und als Wanderprogrammleiter des Rotpunktverlags sowohl praktisch wie theoretisch mit dem Wandern auseinander. Geht das nur mir so, oder ist das ein bekanntes Phänomen?
SP: Wie schon erwähnt waren bis zur Verbreitung des Automobils die meisten Menschen zu Fuss und selten zum blossen Vergnügen unterwegs. Die damit verbundenen Gefahren waren ja auch viel grösser als heute, wo wir in den Bergen über gut ausgebaute und regelmässig unterhaltene Wege verfügen. Heute wandern wir in erster Linie zu unserem Vergnügen und erleben dabei eine wohltuende Einfachheit und Reduktion aufs Wesentliche, nämlich zu Fuss gesund an ein von uns gewähltes Ziel zu gelangen. Unterwegs bewundern wir wunderschöne Blumen am Wegrand, lauschen den Vogelstimmen, beobachten Wildtiere, überqueren sprudelnde Bäche und baden vielleicht in eiskalten Bergseen. Gerät man dabei nicht gerade in ein Unwetter, erleben wir das als reinen Genuss und als wohltuende Abwechslung zu unserem durchstrukturierten und hektischen Alltag. Unterwegs treffen wir vielleicht auch auf Relikte aus früheren Zeiten, zum Beispiel auf verfallene Burgen oder Alpgebäude etc. So kommen wir an Orten vorbei, die schon vor Hunderten von Jahren auf dieselbe Art wahrgenommen wurden, nämlich zu Fuss.
MB: Es ist also die Art der Fortbewegung, die uns in der Zeit versetzt und so die Geschichte erlebbar macht.
SP: Gerade im Fall von Alpenpässen ist dieses Erleben besonders reichhaltig. Pässe sind nämlich in der Regel nicht Ziel, sondern bilden als Übergang eine Verbindung unterschiedlicher Kulturräume. Beim Überqueren eines Passes ist erlebbar, was die Regionen auf beiden Seiten des Passes verbindet und was sie unterscheidet. Am genussvollsten ist das Erlebnis, wenn es Schritt für Schritt zu Fuss erfolgt, und am eindrücklichsten und interessantesten mit Hintergrundinformation und Geschichten aus der Vergangenheit. Der bekannte Autor und Alpenfotograf Marco Volken hat dazu ein wunderbares Buch geschrieben – Über die Alpen. Große und kleine Pässe zu Fuss entdecken – im Juli 2024 im Rotpunktverlag erschienen. Im Buch werden 15 Alpenpässe vorgestellt, mit vielen spannenden Hintergrundgeschichten, tollen Bildern und interessanten Wandervorschlägen.
MB: Dann gibt es natürlich auch viel pragmatischere Fragezeichen – beispielweise: Wer unterhält die Wanderwege und warum sind die Wanderweg-Schilder gelb?
SP: Pionier in der Markierung von Wanderwegen in der Schweiz war ein Lehrer aus Zürich, Johann Jakob Ess. Aus Ärger über die Belästigung auf Schulreisen durch den motorisierten Verkehr, gründete er in den 1930er-Jahren die «Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege» (heute «Verband der Schweizer Wanderwege») und kümmerte sich um die Signalisation von Wanderwegen. Für diese liebäugelte Ess zunächst mit der Farbe Grün, doch musste er sich bald eingestehen, dass sich grüne Wegweiser nicht gut genug von den Bäumen abhoben. Orange oder Rot kamen für ihn nicht infrage, da er leicht farbenblind war, somit blieb noch Gelb. Die Farbe der Wegweiser hat sich seit damals nicht mehr geändert. Es ist aber nicht nur die Farbe, die einen Wegweiser ausmacht: Ein 70-seitiges Handbuch legt fest, wie die Wegweiser aussehen, beschriftet und montiert werden müssen.
MB: Gelten auf und für Wanderwege bestimmte Gesetze?
SP: Seit 1985 ist das Bundesgesetz über Fuss- und Wanderwege (FWG) in Kraft. Es verpflichtet die Kantone zur Planung, zur Umsetzung und zum Unterhalt eines Fussweg- und Wanderwegnetzes. Der Bund unterstützt die Kantone dabei durch fachliche Beratung. Das FWG legt fest, dass Wanderwege «möglichst gefahrlos» zu begehen sein müssen. Wanderwege sind dabei in drei Wegkategorien eingeteilt: Wanderweg (gelbe Markierung), Bergwanderweg (weiss-rot-weiss) und Alpinwanderweg (weiss-blau-weiss). Für die drei Kategorien gelten unterschiedliche Anforderungen an die Wegnutzenden bezüglich Trittsicherheit, Ausrüstung, Fitness und Gefahrenprävention. Es stehen also einerseits die Betreibenden in der Pflicht, die Wandernden je nach Wegkategorie vor nicht offensichtlichen Gefahren zu schützen. Andererseits müssen die Wanderinnen und Wanderer, die Anforderungen an ihre körperliche Verfassung und Ausrüstung kennen und sollten Wege nur nutzen, wenn sie die dafür nötigen Anforderungen erfüllen.
MB: Ein Spannungsfeld scheint mir die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu sein: Die unberührte Natur übt eine grosse Faszination auf den Menschen aus. Wenn Wandern zum Trend wird, was verschiebt sich dann in diesem Verhältnis Mensch-Natur?
SP: In unseren Breitengraden gibt es kaum noch wirklich unberührte Natur im engeren Sinn, (fast) jeder Winkel ist mehr oder weniger erschlossen und mit kleinerem oder manchmal auch grösserem Aufwand erreichbar. In Bezug auf Wandern als Trend sehe ich daher die Beziehung zwischen Mensch und Natur auch nicht in erster Linie als «Spannungsfeld». Im Gegenteil, es ist doch wunderbar, wie viele Menschen dank dem Wandern die Schönheit der Natur erleben können. Damit werden sie dafür sensibilisiert, diese zu erhalten. Persönlich bin ich auch nicht der Meinung, wir sollten die Natur in den Bergen komplett sich selber überlassen und die Menschen davon aussperren. Der Mensch ist seit langer Zeit Teil dieser Umwelt, gerade jene, die in und von den Bergen leben. Wanderer verschaffen lokalen Dienstleistern wie Hotels, Restaurants, Berghütten etc. zu Einkommen und helfen so mit, dass Natur erlebbar bleibt. Komplette Wildnis ohne jegliche menschliche Präsenz halte ich für eine romantische Vorstellung von «Stadtmenschen», sie führt langfristig zu einer Entfremdung von Mensch und Natur, was in letzter Konsequenz deren Schutz mehr schadet als nützt. Natürlich gibt es Ausnahmen in Form besonders schützenswerter Landschaften, deren Nutzung gewissen Beschränkungen unterliegen muss, um sie nicht in ihrer Schönheit oder gar Existenz zu gefährden. Abgesehen von einigen wenigen touristischen «Hotspots» und wenigen Sonntagen in der Hochsaison scheint mir die Natur auch nicht von Wanderern «überlaufen» zu sein. Auf meinen Wanderungen treffe ich oft kaum auf andere Wanderer. Dieses oft zitierte Spannungsfeld zwischen Mensch und Natur gibt es meines Erachtens beim Wandern gar nicht, vorausgesetzt der Wanderer verhält sich gegenüber der Natur respektvoll, wandert also «fair».
MB: Wie sieht eine faire Wanderung aus?
SP: Fair für die Umwelt ist eine Wanderung, bei der keine unerwünschten Spuren hinterlassen werden. Die Natur ist ein sensibles Ökosystem, ganz besonders in den Bergen. Abfall mit ins Tal zu nehmen, muss eine Selbstverständlichkeit sein, und das klappt meistens auch recht gut. Es gibt aber leider auch Ausnahmen, z. B. ärgere ich mich oft über weggeworfene Bananen- und Orangenschalen, die sind wirklich kein schöner Anblick und je nach Vorbehandlung auch eine Belastung für das lokale Ökosystem in unseren Bergen, wo ja bekanntlich weder Bananen noch Orangen wachsen. Die wenigsten Verschmutzer wissen vermutlich, wie lange es dauert, bis Bananen- und Orangenschalen verrottet sind. [Anmerkung: Siehe dazu die Verrottungstabelle des österreichischen Alpenvereins.] Auch aus Unachtsamkeit liegengebliebene Papiertaschentücher am Wegrand sind ein Ärgernis. Nutzungsbeschränkungen von Wildruhezonen und -schutzgebieten sind zu respektieren. Ein eher neues Phänomen sind dabei Drohnen, die tolle Bilder aus der Vogelperspektive liefern, die Perspektiven der Vogelwelt aber massiv beeinträchtigen. Hierbei wäre etwas weniger Sorglosigkeit und Egoismus oft mehr als angebracht, möglicherweise fehlt es aber auch an der notwendigen Aufklärung. Etwas Sorge macht mir auch die ständig wachsende Zahl der Wildcamper (Instagram lässt grüssen). Feuerstellen sollten zurückhaltend eingerichtet, mit der notwendigen Vorsicht genutzt und korrekt beseitigt werden, lokale Feuerverbote sind unbedingt einzuhalten. Für Abwasch und Körperpflege dürfen ausschliesslich biologisch abbaubare Waschmittel verwendet werden usw. Eine eher unappetitliche Folge der gestiegenen Wildcampingaktivitäten ist der hinterlassene menschliche Kot. Der SAC hat deshalb zusammen mit den Schweizer Wanderwegen die Sensibilisierungskampagne «Scheissmoment» gestartet, die ich als sehr hilfreich und als dringend notwendig erachte.
Stefan Petter
Stefan Petter wurde 1967 geboren. Er ist Ökonom, Historiker und Wanderleiter Schweizer Wanderwege. Beim Rotpunktverlag hat er die Programmleitung «Wanderbuch» inne. Er ist Wanderleiter, u.a. im Auftrag von Per Pedes Bergferien.