Im lokalen Dialekt in Kamikatsu sagt man INOW (Ausspr.:ino) zu «Nachhause gehen.»

Vera Thaler: Ich bin neugierig: Was bringt ein belgisch-kanadisches Paar dazu, in dieses kleine japanische Bergdorf zu ziehen? Und dort ein Unternehmen zu gründen?

Kana: Da ich Nachhaltigkeit studiert habe, wollte ich interessante Orte sehen, die sich mit dem Thema in Japan befassen, da gehörte Kamikatsu dazu. Dass ich hierhergezogen bin, war Zufall und der Beginn von INOW, ein Nachhausekommen für mich.

Japan ist weltweit der zweitgrösste Pro-Kopf Verbraucher von Plastik, hinter der USA. Strenge Hygieneregeln sorgen dafür, dass Lebensmittel grösstenteils in Plastik verkauft werden. Dagegen unternommen wird wenig: mehrere japanische Firmen gehören zu den grössten Plastikproduzenten weltweit. Im Jahr entstehen dadurch laut UN-Umweltprogramm ca. neun Millionen Tonnen Plastikabfall, 71 Kilogramm pro Einwohner*in, davon 40 Prozent Verpackungen. Im Durchschnitt verbraucht jede*r Japaner*in jährlich bis zu 450 Einkaufstüten aus Plastik und 183 PET-Flaschen.

VT: Eure Wahlheimat Kamikatsu beeindruckt mit einem innovativen Recyclingsystem, bei dem alle im Dorf anfallenden Abfälle in 45 verschiedenen Kategorien recycelt werden. Wie kommt es, dass Kamikatsu Japan-weit diese Vorreiterrolle eingenommen hat?

Sil: In der Vergangenheit war sowohl von Seiten der Regierung als auch von Aktivisten aus der Gemeinde der Wunsch nach Veränderung da, diese unterschiedlichen Kräfte haben zusammengewirkt. Im ersten Anlauf wurden zwei neue Verbrennungsanlagen im Dorf gebaut. Doch die überschritten die erlaubten CO2 Werte. Die Regierung musste nach einem neuen Weg suchen, um das Abfallsystem billiger, aber auch besser für die Umwelt zu machen.

VT: Das klingt interessant! Könnt ihr uns mehr über die Zero-Waste Strategie erzählen?

Sil: Derzeit werden 80 % der Abfälle aus Kamikatsu recycelt, 20 % müssen noch immer verbrannt werden, da die Technik es nicht anders zulässt. In den Medien wird dieses romantische Bild von Kamikatsu als abfallfreies Dorf gezeichnet. Aber das ist ein verzerrtes Bild.  Natürlich gibt es auch Einheimische, die es als mühsam empfinden, ihren Müll zur Müllstation fahren, ihn reinigen und trocknen zu müssen. Es kostet mehr Zeit und Mühe als den Müll einfach wegzuwerfen.

"Die Zero-Waste Strategie bedeutet nicht, dass die Einwohner*innen von Kamikatsu keinen Abfall produzieren, aber sie streben danach, dass kein Abfall auf der Mülldeponie oder in der Verbrennungsanlage landet.“

VT: Als Zugezogene habt ihr vielleicht einen differenzierten Blick auf das System. Würdet ihr es als Erfolgsgeschichte bezeichnen?

Sil: Ja – allerdings innerhalb der Grenzen des Möglichen. Recycling sollte nur die letzte Stufe sein – in Wirklichkeit geht es um den Lebensstil, den wir wählen. Die Entscheidungen, die wir beim Konsum treffen, führen zu all den Abfällen, die wir am Ende verursachen. Statt aufwendige Mülltrennung zu betreiben, müssen wir Produkte schaffen, die nachhaltiger und zirkulärer sind und wiederverwendet werden können, statt sie dem Downcycling zuzufügen.

VT: Wird mit Müll in Kamikatsu bewusster umgegangen als in anderen Orten?

Sil: Man wird sich viel bewusster über seinen Abfall und die verschiedenen Bestandteile davon. In meinen Augen ist das System von Kamikatsu sehr lehrreich. Es zeigt einem zum Beispiel, was mit dem Müll passiert, wie viel Geld mit Recycling verdient werden kann und welche Unternehmen den Müll weiterverarbeiten. Das ganze System ist viel transparenter.

VT: Wie wirkt sich dieses Bewusstsein auf das Konsumverhalten der Bewohner*innen aus?

Kana: Auch hier schaffen die Medien eine Art Narrativ. Es ist schwer, für das ganze Dorf zu sprechen. 1400 Einwohner*innen sind im Vergleich zu vielen anderen Orten eine kleine Zahl, aber es gibt immer noch viele verschiedene Denkweisen und Perspektiven. Für uns persönlich hat es Auswirkungen darauf, wie und wie viel wir konsumieren. Je mehr man recycelt und sich mit dem Material auseinandersetzt, desto weniger nimmt man es als Abfall wahr. Es ist plötzlich nichts Ekliges oder Stinkendes mehr, sondern eine Ressource mit Wert.

VT: Wo seht ihr die grössten Hindernisse in diesem Zusammenhang?

Sil: In Japan gibt es dieses kulturelle Verständnis: Wenn etwas nicht in Plastik ist, ist es unhygienisch oder schmutzig. Selbst in Kamikatsu findet man Plastik, so einfach ist das. Kulturelle Muster sind sehr schwer zu ändern. Gleichzeitig würde ich sagen, dass es in der japanischen Kultur auch einfacher ist, Veränderungen herbeizuführen. Wenn die Regierung einen Wandel erzwingen will, werden die Menschen im Allgemeinen folgen – darin liegt auch eine Chance.

VT: Apropos Chance: Mit eurem Unternehmen INOW wollt ihr Gästen die Möglichkeit bieten in die Lebensweise von Kamikatsu einzutauchen. Was bedeutet „INOW“ für euch?

Kana: Die Idee war, für unsere Besucher*innen ein Zuhause in Kamikatsu zu schaffen. Für uns selbst ist es ein Geschenk, mit den Menschen vor Ort verbunden sein zu können. Durch diese Verbindung wollen wir einen sinnvollen Austausch zwischen Besuchenden und Einheimischen fördern und so sozial und wirtschaftlich zum Dorfgefüge von Kamikatsu beitragen. Unser Ziel ist es, einen Tourismus zu schaffen, der sowohl für den Gastgeber als auch für den Gast positiv ist. Ein wechselseitiger Austausch, bei dem beide voneinander lernen. Wir arbeiten mit vielen verschiedenen Anbietern, z.B. mit lokalen Landwirten, und bringen sie auf unterschiedliche Weise mit unseren Gästen zusammen. Wir wollen keine einseitige Erfahrung.

VT: Zuhause sein in Kamikatsu… Bedeutet das für eure Reisenden, dass sie selbst verantwortlich sind für ihren Müll?

Kana: (lacht) Selbstverständlich! Wir sind flexibel in der Programmgestaltung, jeder Aufenthalt ist individuell. Das Müllthema liegt uns aber sehr am Herzen und ist fixer Bestandteil für alle Reisende, um den Besuch bei der Recyclingstation kommt keiner drumherum!

Du willst mehr über das Leben der beiden Expats in Kamikatsu erfahren? Dann hör in ihren Podcast rein, oder schau dir ihr Video an.   

Zu Kana Watando und Sil Van de Velde

Kana Watando (Mitbegründerin & Geschäftsführerin): Kana ist in Kanada geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter ist Japanerin und ihr Vater stammt aus Hongkong. Sie zog 2020 nach Kamikatsu, um mehr über nachhaltige Initiativen und den ländlichen Lebensstil zu erfahren. Mit dem INOW-Programm möchte sie dazu beitragen, Umwelt und Kultur des Dorfes zu erhalten und zu erneuern.

Sil Van de Velde (Geschäftsführer): Sil ist in Belgien geboren und aufgewachsen, 2022 zog er nach Kamikatsu. Mit INOW möchte er bereichernde Lernerfahrungen und Kooperationen zwischen Gästen und Bewohner*innen und Unternehmen von Kamikatsu schaffen.