Von verschobenen Grenzen und verzerrten Bildern
"Antike Höhlen und Siedlungen am nördlichen Ufer des Toten Meeres, wo die ältesten, biblischen Dokumente überhaupt gefunden wurden, zeichnen die Geschichte und das tägliche Leben der geheimnisvollen Essener nach." In diesem Auszug aus einem Werbetext des israelischen Fremdenverkehrsamtes ist die Rede von Qumran. Doch Qumran liegt nicht in Israel, sondern auf palästinensischem Gebiet im Westjordanland. Dieser wesentliche Hinweis fehlt.
Ähnliche Lücken in der Darstellung der Region finden sich auch beim palästinensischen Pendant – dem palästinensischen Ministerium für Tourismus und Antiquitäten. "Palästina ist ein Gebiet mit einer reichen Geschichte und liegt zwischen der Mittelmeerküste und dem Jordan, am Kreuzweg zwischen Afrika und dem Nahen Osten". Doch dass Palästina das Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan nicht alleine beansprucht, lässt das palästinensische Ministerium unter den Tisch fallen.
Beide Darstellungen sind verzerrt und für den Leser fehlleitend. Angesichts des Konflikts, in dessen Rahmen sich der Tourismus in Israel und Palästina abspielt, tut eine transparente Darstellung der Besitzverhältnisse, die sich mit den UN-Resolutionen, der Waffenstillstandslinie von 1967 und dem Völkerrecht deckt, dringend Not.
Bilder beeinflussen die Realität
Der Tourismus in und nach Israel und Palästina sorgt seit vielen Jahren bei Forschungsgruppen und Nichtregierungsorganisationen, in Akademikerkreisen und Medien kontinuierlich für Gesprächsstoff. Oft wurde angeprangert, die Kontrolle der Grenzübergänge durch israelische Sicherheitskräfte behindere die touristische Entwicklung in Palästina. Hinzu kommen die Hürden der Lizenzierung palästinensischer Reiseleiter. Wie staatliche Tourismusministerien und Reiseveranstalter die Region darstellen, fand bisher jedoch wenig Beachtung. Aber gerade die kommunizieren ein bestimmtes Bild der Region. Dieses Bild wirkt auf das Bewusstsein von Touristen und damit auch auf die Realität des Tourismus. Es prägt die Aussenwirkung der Länder, ihre Interaktion mit anderen Kulturen und bestimmt so auch die Höhe der touristischen Einkünfte.
Für eine ausgeglichene und nachhaltige touristische Entwicklung, die helfen kann, die Region politisch zu stabilisieren, ist eine völkerrechtlich korrekte und transparente Darstellung der Region und eine entsprechende Gestaltung von Reiseprogrammen wichtig. Tourismusministerien müssen insbesondere den Status Jerusalems als "geteilte Hauptstadt beider Parteien" und verwendetes Bildmaterial kennzeichnen. In Materialien der beiden staatlichen Tourismusinstanzen sind die Grenzen jedoch häufig verschoben. Von einer völkerrechtskonformen Darstellung scheint man so weit entfernt wie von der angestrebten Zweistaatenlösung des Israel-Palästina-Konflikts.
Sensibilisierung tut Not
Auch deutsche Reiseveranstalter nutzen nicht alle Möglichkeiten, eine gleichberechtigte Beteiligung der Parteien am Tourismus sicherzustellen. Sie sind aufgefordert, den Besuch palästinensischer Orte verstärkt in Reiseprogramme zu integrieren – und zwar insbesondere durch Übernachtungen in palästinensischen Unterkünften und Begegnungen mit der Bevölkerung. "In Bethlehem wechseln wir auf palästinensisches Territorium und gleichzeitig die Perspektive. Acht Meter hoch ist die Mauer, die Israelis und Palästinenser trennt – ein Mahnmal für die Hilflosigkeit der Politik." Differenzierte und qualifizierte Darstellungen wie diese eines führenden Studienreisenveranstalters sind leider die Ausnahme, nicht die Regel.
Touristen auf Reisen in die Region zu sensibilisieren stellt offenbar viele Reiseveranstalter vor eine grosse Herausforderung. Es gehört allerdings zu ihrer Verantwortung und ist für einen gerechten Tourismus in der Region von zentraler Bedeutung. Eine gerechte Handhabung von Reisen in die Region kann angesichts der prekären sozio-ökonomischen Lage in Palästina eine positive Entwicklung stimulieren. Doch dazu müssen Ministerien und Veranstalter ihrer Verantwortung nachkommen, die Region transparent und korrekt darzustellen und Reisen ausgewogen zu gestalten.
Esther Werling ist Absolventin des Studiengangs International Tourism Management und hat sich während ihres Praktikums bei Tourism Watch mit Tourismus in Konfliktgebieten befasst. Ihre Bachelorarbeit "Tourism for Development? – (Mis)Representation of Israel and the Palestinian Territories" ist online unter http://tourism-watch.de/de/node/1698 verfügbar. Dieser Beitrag wurde der Publikation Tourism-Watch (Nr. 62, September 2011) der gleichnamigen Fachstelle des Evangelischen Entwicklungsdienstes EED in Bonn entnommen. Wiedergabe mit freundlicher Genehemigung.