Von wegen «Progress»
Von der Sonne am knallblauen Märzhimmel draussen bekommt der Raum nichts ab. Die Aula des Baselbieter Gymnasiums Münchenstein ist dunkel. In einer Viertelstunde werden rund 160 Schülerinnen und Schüler den Raum stürmen und sich gegenseitig die Luft zum Atmen streitig machen. Die 25-jährige Zephe Thandiwe Zwane von der südafrikanischen Tanzgruppe Taxido sitzt auf dem Bühnenrand und lässt den Raum auf sich wirken. Hinter ihr wird grad der Flügel beiseite geschoben. "Seit 2005 tanze ich", sagt die rundliche Schwarze mit den braunen Havanna-Twist-Zöpfchen, die sie gerade noch einmal einzeln nachdreht. "Es ist das erste Mal, dass wir solche Workshops geben", erzählt die junge Frau, die seit einigen Jahren von ihrer Kunst leben kann.
Ihr Ehemann Jerry Zwane sitzt etwa einen Meter von uns entfernt ebenfalls am Bühnenrand. Er ist der Leiter der Tanzgruppe. Der stämmige 42-Jährige mit der weissen Adidas-Jacke guckt kritisch auf seine drei Tänzer Teboho Moloi, Venter Teele Rashaba und Tshidiso Mokoena, die sich in der Mitte der Aula zu lauten Minimal-House-Sounds warmtanzen. Immer sind sie synchron, und doch wirkt ihr Tanz nicht durchchoreografiert. Es scheint, als fühlten sie zufällig dasselbe. Mit schnellen, präzisen und doch lockeren Bewegungen messen die jungen Männer den Raum aus, ohne dass es sie Kraft oder Konzentration zu kosten scheint.
Einen Monat lang touren die fünf Taxido-Mitglieder mit der Regisseurin Irene Loebell auf Promotion-Tournee für den Dokumentarfilm "Life in Progress" durch die Schweiz. Sie sind die Protagonisten des Films, der seit Anfang März in den Kinos läuft. Der Titel ist ein Wortspiel: Das englische Wort "Progress" für "Fortschritt" ist eine Übersetzung des Sotho-Worts "Katlehong"; so heisst das Township am Rande von Johannesburg, in dem die Tänzer leben und wo "Life in Progress" entstand. Knapp 20 Workshops und zahlreiche öffentliche Filmvorführungen mit anschliessender Diskussion in der ganzen Deutschschweiz sind angesetzt.
Leben in Streichholzschachteln
Die Hälfte der Zeit in der Schweiz ist schon rum, die Gruppe wirkt etwas erschöpft. Trotzdem ist Tänzerin Thandiwe von den Begegnungen mit den Schweizer Jugendlichen begeistert: "Wir hätten nicht gedacht, dass die Kids hier die Bewegungen so schnell erlernen." In Südafrika würden sie zwar hier und da mal auftreten, aber Workshops wie diese fänden dort nicht statt. "We don’t mix, you know", wir vermischen uns nicht, sagt Thandiwe und setzt hinzu, dass die Lebensräume von Schwarzen und Weissen auch 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid grossenteils getrennt seien. In Katlehong leben rund 400 000 Menschen, Weisse sind nicht darunter. "Hier in der Schweiz begegnen sich Schwarze und Weisse und machen vieles gemeinsam", sagt Thandiwe. "Es gibt nicht einen Platz für die einen und einen für die anderen."
Im Film "Life in Progress" taucht Thandiwe nur am Rande auf. Als Irene Loebell 2008 mit den Dreharbeiten begann, war Thandiwe noch nicht bei Taxido, erst 2010 stiess sie dazu. Und trotzdem findet sie den Film "sehr aufwühlend". Er zeige sehr direkt, wie sie lebten und dass sich seit Beginn der Dreharbeiten vor mehr als sechs Jahren kaum etwas verbessert habe. Immer noch wohnen die Menschen in Katlehong in Wellblechhütten und Holzbaracken, und auch jene, die eines der sogenannten "Matchbox-Houses" bewohnen, klein wie Streichholzschachteln, haben in der Regel kein eigenes Badezimmer. Zwar sorgen inzwischen Flutlichter für mehr Sicherheit des Nachts, Strassen wurden geteert, Restaurants, Einkaufszentren und Schulen gebaut. Und der eine oder andere kann sich einen Anbau leisten. Trotzdem liegt der Lebensstandard in Katlehong immer noch weit unter dem der armen Viertel Johannesburgs. Von wegen "Progress". Sie fühle sich schlecht dabei, sagt Thandiwe und lässt offen, ob sie den Film oder ihr Leben meint. Viele ihrer Kollegen hätten die Dreharbeiten als störend empfunden, sagt sie noch. "Fragen Sie mal Venter!", schlägt sie vor und zeigt auf einen der tanzenden Jungs.
Doch da beginnt der Workshop. "Wir beginnen mit einem ordentlichen Aufwärmen", ruft der 28-jährige Teboho Moloi fröhlich und beginnt kraftvoll auf der Stelle zu joggen, wobei er die Knie weit hochzieht. Seine Energie ist so mitreissend, dass selbst die grosse Masse Pubertierender bald gesammelt mitjoggt. Selbst einige Lehrer machen mit.
Teboho, genannt "Murder", ist der Pantsula-Meister bei Taxido. Pantsula, das ist der Strassentanz der Townships. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren im Gangstermillieu und als Ausdruck einer eigenen Townshipkultur entstanden, ist es heute zu einem populären Jugendtanz mit eigenem Kleidungsstil und regionalen Unterschieden geworden. Bei Taxido kümmert sich Teboho um die Musik, arrangiert und kreiert die Tänze. Auf der Bühne erklärt er den Münchensteinern, worum es bei Pantsula geht. "Wir erzählen Geschichten: Strassengeschichten", sagt er. "Und der Tänzer dieses Pantsula hier ist zu spät dran", Teboho rennt wieder auf der Stelle. "Wir haben keine festen Haltestellen, wir machen so, um das Taxi nach Johannesburg anzuhalten." Er streckt seinen Zeigefinger am ausgestreckten Arm in die Luft. In Johannnesburg gehe der Tänzer dann spazieren, Teboho beschreibt mit beschwingtem Schritt einen Kreis auf der Bühne. "Als Nächstes fährt der Pantsula-Typ nach Pretoria, da gehen die Pantsula-Tänzer ganz anders", sagt Teboho und schüttelt die Hände vor der Brust. Dann macht er einen Schritt vor und streckt die Hand aus, als würde er Würfel werfen. "Der Tänzer spielt gern", lacht er, "Ihr seht: Alles, was wir jeden Tag machen, ist Pantsula." Frauen liebten die Pantsula-Tänzer, setzt er lächelnd hinzu.
Nach der einstündigen Tanzsession machen sich die Schüler in kleinen Gruppen auf den Weg zum Tram, um zum Kultkino Atelier in der Basler Innenstadt zu fahren, wo sie "Life in Progress" sehen werden. Venter schlendert mit seinen Kollegen zur Haltestelle. "Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, wollte ich ihn nicht noch einmal sehen", gibt der 24-jährige zu. "Life in Progress zeigt mein ganzes Leben, und wie hart es ist", Venter zieht die Augenbrauen zusammen, "doch dann gibt es auch Momente, wo ich mich freue, jetzt hier in der Schweiz zu sein." Er entdecke sich selbst neu, sagt er. "Ich dachte, der Film würde mein Leben verändern, und realisiere nun, dass dies ein Wunschtraum war." Immer noch hoffe er, dass bei einer der Vorstellungen jemand aufsteht und sagt: "Hey Leute, ich möchte euch helfen, was kann ich tun?"
"Mein Sohn soll nicht ohne Vater aufwachsen wie ich"
Derzeit verdient Venter seinen Lebensunterhalt mit Tanzen, sein Traum wäre jedoch ein Kunststudium an der Universität von Johannesburg. Doch bisher reichten seine Noten nicht aus, um zugelassen zu werden, wie eine Szene im Film dokumentiert. Zudem bräuchte er in jedem Fall ein Stipendium, um die hohen Gebühren zu finanzieren. Und Venter hat derweil andere finanzielle Verpflichtungen. Er ist Vater eines einjährigen Jungen. Von der Mutter des Kindes lebt er derzeit getrennt. "Wir sind beide noch so jung und brauchen Zeit", sagt er. "Ich möchte nicht, dass mein Sohn aufwächst wie ich, ohne seinen Vater zu kennen", erklärt er. "Deshalb müssen meine Freundin und ich uns erst selbst finden und erwachsen werden, damit wir unserem Sohn eine richtige Familie bieten können", so seine Hoffnung. Es ist vielleicht die eindrücklichste Szene im Film, als Venter gemeinsam mit seinem Bruder nach Lesotho fährt, um dort vor laufender Kamera seinen Vater wiederzutreffen. Acht Jahre hatten sie ihn nicht gesehen. Dass Loebell gerade diesen intimen Moment gefilmt hat, obwohl er dies eigentlich nicht wollte, ist eine der Unstimmigkeiten zwischen Regisseurin und Protagonisten. Immer noch treibe ihm die Szene die Tränen in die Augen, sagt Venter, weshalb er sich den Film momentan auch lieber nicht mehr anschaue.
Für Regisseurin Irene Loebell war die Begegnung zwischen Venter, seinem Bruder und deren Vater filmisch sehr wertvoll, wie die 61-jährige im Gespräch am Rande des Workshops erzählt: "Wir hatten einen Deal, dass ich das Wiedersehen drehen darf", erzählt Loebell, "doch dann wollte Venter immer wieder, dass ich aufhöre zu drehen, aber das ging einfach nicht." Es ist ein sehr intimer Blick, den Loebell mit ihrem Film auf das Leben der Tänzer aus Katlehong wirft. Als sie den Protagonisten den Film das erste Mal gezeigt habe, habe Venter dann vor Wut auf das Bett gehauen, auf dem er gesessen habe, sagt Loebell, am Schluss habe er jedoch den Daumen hochgestreckt. Die Regisseurin spricht über ihre Protagonisten, als seien sie Schützlinge. Ist es nun mutig oder unsensibel, als weisse, gutsituierte Schweizerin das Leben armer schwarzer Tänzer in einem südafrikanischen Township zu filmen – und das angesichts der historischen Schuld, die die Schweiz als Unterstützerin der Apartheid auf sich geladen hat? Schliesslich unterhielt die Schweiz auch dann noch beste Wirtschaftsbeziehungen zum Apartheid-Regime, als die USA und die EG wegen der menschenverachtenden Politik bereits Sanktionen verhängt hatten. Noch 1986 gab Alt-Nationalbankchef Fritz Leutwiler Südafrika Rückendeckung, indem er ein Umschuldungsprogramm für den verschuldeten Staat organisierte.
Nicht immer ganz wohl bei der Sache
Mehr als einmal fragt sich der Zuschauer, ob den Gefilmten eigentlich wohl dabei ist, beim Eincremen vor dem kaputten Spiegel in der Wellblechhütte, dem Schuhewaschen in der Plastikschüssel oder auch dem Besuch eines HIV-Aufklärungsteams durch die Kamera beobachtet zu werden. Hätte ein solcher Film nicht besser von Südafrikanern selbst gemacht werden sollen? Loebell glaubt nicht, dass es den Film dann in dieser Form geben würde. "Mir hat mal ein südafrikanischer Produzent mit Wurzeln in Namibia gesagt, es sei auffällig, wie oft die Leute von aussen kämen, wie viele im Filmbereich, die sich für Townships interessieren, eben nicht aus Südafrika sind", erzählt Loebell. Sie ist überzeugt: "Wenn man von aussen kommt, sieht man einfach andere Sachen." Loebell sieht die Hauptproblematik des Films an anderer Stelle: "Es tut den Jungs sehr weh, zu sehen, wie sie leben." Und weil die Gefilmten nicht wollten, dass ihre Freunde wüssten, wie arm sie seien, würde "Life in Progress" bisher auch nicht in Katlehong selbst gezeigt, sagt sie und fügt schulterzuckend hinzu: "Obwohl die Freunde doch in derselben Armut leben."
Loebell begleitet ihre Protagonisten seit 2008. Es war auch für sie eine intensive emotionale Auseinandersetzung, das Material für ihren Film aufzunehmen. Dass sie an manchen Stellen eine aktive Rolle im Film übernimmt und mit den Gefilmten von hinter der Kamera aus ganze Diskussionen führt, hat sich erst während der Dreharbeiten so entwickelt, erzählt Loebell: "Ursprünglich hatte ich vor, viel mehr nur zuschauend zu filmen." Doch dann sei sie von ihren Protagonisten ins Geschehen mit einbezogen worden. Nicht immer sei ihr selbst ganz wohl dabei gewesen: "Dass Jerry seine Schüler schlägt, wie man das im Film sieht, das wollte er mir unbedingt zeigen." Und wendet ein: "Ich wollte es auch unbedingt draufkriegen, natürlich." Und trotzdem habe sie die Szene als demütigend empfunden. "Manchmal war ich richtig wütend auf ihn", gibt sie zu.
Tanzgruppenchef Jerry Zwane selbst hat ebenfalls gemischte Gefühle gegenüber dem Film, wie er vor dem Kultkino Atelier erzählt, in das die Münchensteiner Schüler inzwischen zur Vorführung verschwunden sind. Wie Venter beschreibt Zwane den Film als eine Art Spiegel für sich und die Gruppe, mit allen Hochs and Tiefs. "Es gab Orte, wo ich Irene nicht dabeihaben wollte", sagt er über Loebells Dreharbeiten und erzählt, er habe daher klare Grenzen gezogen. "Der Film ist auch nicht ganz das geworden, worauf wir uns anfangs verständigt haben", sagt Zwane zurückhaltend, "es ist schon sehr Irenes Blick auf die Dinge." Er hätte es lieber gehabt, wenn bestimmte Konflikte innerhalb der Gruppe nicht im Film aufgetaucht wären. Zudem mache es ihn unruhig, dass zuhause die Arbeit liegenbleibe. Ein Monat Promotion-Tournee für einen Film, bei der sich am Ende keine zusätzliche Finanzierung für Taxido ergebe, könne er sich als Hauptverantwortlicher für die Finanzen der Gruppe eigentlich nicht leisten, so Zwane.
Aber dass Loebell eine Weisse und noch dazu Schweizerin ist, sei für ihn an sich kein Problem gewesen. Die meisten Schweizer würden die Rolle ihres Landes während der Apartheid heute ja kritisch sehen. Allerdings habe er ein generelles Problem mit Filmteams aus dem Ausland, die seit dem Ende der Apartheid in die Townships kämen und ohne richtigen Austausch mit der Bevölkerung auf Nimmerwiedersehen mit ihren Aufnahmen wieder verschwänden, sagt Zwane. "Niemand darf kommen und uns für seine eigenen Interessen als Filmobjekt missbrauchen", sagt er. Doch so sei Loebell nicht gewesen, das stellt Zwane klar, und doch zögert er, auf die Frage nach seiner Zufriedenheit mit dem Ergebnis zu antworten. "Ich bin zu 70 Prozent glücklich", sagt er schliesslich.
Irene Loebell: "Life in Progress", CH/SA 2014, 95 Min., moderierte Vorstellung (Sabine Gisiger, Christian Iseli) am Do, 21. Mai, 19.15 Uhr an der ZhdK: Toni Areal, Kino Toni, Ebene 3, Pfingstweidstr. 96, Zürich