Vorbehalte gegen «grüne Wirtschaft»
Das 1992 am Erdgipfel von Rio vereinbarte entwicklungs- und umweltpolitische Aktionsprogramm Agenda 21 gilt bis heute als Meilenstein auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung. Darin anerkannten die Industrieländer, dass ihnen beim Schutz der Umwelt eine grössere Verantwortung zukommt als den Entwicklungsländern, strapazierten sie doch die natürlichen Ressourcen und die Umwelt ungleich stärker. Zudem versprachen die reichen Länder dem Süden zusätzliche Finanzmittel sowie technologische Unterstützung für eine umweltschonende, gerechte und menschenwürdige – also nachhaltige Entwicklung. Von der Vorstellung, Entwicklungsländer müssten zuerst wirtschaftlich wachsen, bevor sie die Umwelt schützen und den Reichtum gerechter verteilen können, hatte man sich – zumindest auf dem Papier – in Rio verabschiedet.
Papier ist geduldig
Der auf höchster politischer Ebene beschlossene Paradigmenwechsel von nicht nachhaltigem Wirtschaftswachstum hin zu nachhaltiger Entwicklung hat bis heute nicht stattgefunden. Die Umsetzung der Angenda 21 ist gescheitert. Die Menschheit zerstört den Planeten mit zunehmender Geschwindigkeit. Einkommen und Vermögen sind alles andere als gerecht verteilt. Die Theorie, dass es bei genügend Wirtschaftswachstum schliesslich allen besser gehe, so wie bei einer Flut alle Boote höher steigen, hat sich in der Praxis nicht bewahrheitet. Das Gegenteil ist der Fall: So weist das Third World Network in seiner Eingabe für Rio+20 darauf hin, dass sich zwar das weltweite Einkommen pro Kopf verdoppelt hat, dass heute aber 20 Prozent der Weltbevölkerung über 70 Prozent des weltweiten Einkommens verfügen, während das ärmste Fünftel nur gerade zwei Prozent davon erhält. Was ist schief gelaufen, und wie kann man Gegensteuer geben? Das möchten die Entwicklungsländer im Juni in Rio klären.
Flucht nach vorn
Hätten die Industriestaaten die Umsetzung der Agenda 21 ernst genommen, hätte dies grundlegende Veränderungen in ihrer internationalen Politik bedeutet. Sie könnten nicht mehr via Welthandelsorganisation WTO den Abbau von Subventionen zur Förderung umweltfreundlicher Industrien in Entwicklungsländern einfordern und gleichzeitig die eigene Landwirtschaft subventionieren. Sie müssten im Zuge des vereinbarten Technologietransfers Lizenzen für den Nachbau von High-Tech-Produkten zu angemessenen Preisen vergeben. Wäre es ihnen ernst mit der nachhaltigen Entwicklung, müssten sie schliesslich nicht nur ihre "Produktions- und Konsummuster" ändern, wie in vielen Uno-Texten euphemistisch steht, sondern die verbleibenden Ressourcen teilen und weniger Rohstoffe verbrauchen.
Den offensichtlichen Widerspruch zwischen verbal postulierter nachhaltiger Entwicklung und real weiter gepflegtem Fetisch Wirtschaftswachstum versuchen die Industrieländer durch eine neue Formel zu übertünchen: "Grüne Wirtschaft" heisst das neue Zauberwort, das Umweltschutz und Gerechtigkeit weltweit fördern soll, ohne auf Wachstum zu verzichten.
Das tönt sympathisch: Auf den ersten Blick ist eine "Green Economy" eine umweltfreundliche Wirtschaft, die natürliche Ressourcen schont und Verschmutzung und schädliche Emissionen minimiert. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass umstritten ist, ob "grüne Wirtschaft" nun eher die Umwelt schonen oder das Wirtschaftswachstum puschen soll. Auch in den Uno-Vorgesprächen zu Rio+20 gab es bisher keinen Konsens, was "grüne Wirtschaft" genau ist – und was sie nicht sein darf.
Skepsis im Süden
Schon der Begriff "grüne Wirtschaft " lässt eine wichtige Dimension der nachhaltigen Entwicklung aussen vor, nämlich jene der Gerechtigkeit. Auf dieser aber bestehen die Entwicklungsländer: Ihrer Meinung nach sollte Rio+20 den Schwerpunkt weniger auf das umstrittene Konzept der "grünen Wirtschaft" legen als darauf, wie die Industrieländer ihrer historischen Verantwortung mit 20 Jahren Verspätung endlich nachkommen und ihrer Politik der Doppelmoral ein Ende setzen können.
Von Seiten der Entwicklungsländer gibt es einige gewichtige Vorbehalte gegenüber der "grünen Wirtschaft". Sie befürchten eine Mogelpackung, mit der sich der Norden neue Märkte für eigene Umwelttechnologien verschaffen will – nicht zuletzt, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise in den Griff zu bekommen. Martin Khor, Leiter des Genfer South Centre, das Regierungen von Entwicklungländern berät, warnt, "grüne Wirtschaft" dürfe keine Rechtfertigung dafür sein, von Ländern des Südens eine Senkung ihrer Einfuhrzölle auf umweltfreundliche Produkte zu verlangen. Auch dürfe das neue Konzept nicht als Vorwand für einen neuen Protektionismus dienen, in dem Industrieländer Zölle auf Produkte erheben, die ihre Umweltstandards nicht erfüllten.
Die Regierungen der Entwicklungländer befürchten zudem, dass "grüne Wirtschaft" zu neuen Konditionalitäten führen könnte. Der Norden, so Khor, könnte sie dazu nutzen, die Entwicklungszusammenarbeit oder die Vergabe von Krediten an Umweltauflagen zu knüpfen. Protektionismus und neue Konditionalitäten liefen aber der Zusage der Industrieländer entgegen, dem Süden bei dessen nachhaltiger Entwicklung wirkungsvoll unter die Arme zu greifen.
Der Norden in der Kreide
Der Norden steckt nicht nur in einer schweren finanziellen Schuldenkrise. Er hat sich auch durch die Übernutzung der natürlichen Ressourcen gegenüber dem Süden und der Umwelt tief verschuldet. Weil die Industriestaaten für ihre Entwicklung und ihren Lebensstil die natürlichen Ressiourcen enorm belastet haben und noch immer belasten, ist der Spielraum der Entwicklungsländer für eine nachholende Industrialisierung stark eingeschränkt. "Die Gleichberechtigung bei der Nutzung und Kontrolle der natürlichen Ressourcen muss deshalb ein zentraler Bestandteil von ‹Green Economy› sein", fordert Khor.
Konkret werden die Indstrieländer rasch Massnahmen ergreifen müssen, um ihren Ressourcenverbrauch und ihren ökologischen Fussabdruck massiv zu reduzieren. Die Länder des Südens werden ihre wirtschaftliche Entwicklung an den ökologischen Grenzen dieses Planeten ausrichten müssen. Nur das ermöglicht es ihnen, eigene Industrien mit hoher Wertschöpfung aufzubauen und menschenwürdige Arbeitsplätze zu schaffen, ohne den ökologischen Kollaps zu riskieren. Für einen umweltverträglichen Entwicklungspfad benötigen sie aber mehr denn je die finanzielle und technologische Unterstützung der Industrieländer. Das also, was die Regierungschefs schon am Erdgipfel von 1992 versprochen haben.
Quellen: www.uncsd2012.org/rio20/index.php?page=view&type=510&nr=446&menu=20; Khor, Martin (2011): Risks and Uses of the Green Economy Concept in Sustainable Development, Poverty and Equity
Dieser Beitrag erschien in der Winter 2011/2012-Ausgabe von Global+, dem Magazin von Alliance Sud. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung