Im Jahr 2008 hat Israel den 60. Jahrestag seiner Staatsgründung gefeiert. Für Palästinenserinnen und Palästinenser ist dieses Datum mit Flucht und Vertreibung verbunden. Sie gedenken der “Nakba“.
"Das Leben ist so schwer. Und es wird schlimmer. Es gab eine Zeit, da wir in Israel arbeiten gehen konnten. Jetzt leben die Menschen von Hilfe. Für manche ist das Leben schwerer als für andere, etwa für jene, die kein Wasser haben“, beobachtet die 73-jährige Khadeja Al-Najar in Gaza. Sie gehört zu denjenigen, die Wasser haben, und verbringt ihren Lebensabend in der Familie einer ihrer Söhne ausserhalb des Flüchtlingslagers Jabalia.
Geboren und aufgewachsen ist sie im palästinensischen Dorf Huj im heutigen Israel an der Grenze zum Gazastreifen. “Von unserem Land hatten wir Obst, Fleisch und Milch“, erzählt sie. “Es war gutes Land, rote Erde, gut für Gemüse.“ Die Beziehungen zu den Juden, die im benachbarten heutigen Sderot siedelten, seien gut gewesen. Man habe sich gegenseitig geholfen. “Mutti kannte den jüdischen Arzt und das jüdische Geschäft“, ergänzt ihr Sohn. “Es gab sogar Hochzeitsfeste, an denen jüdische Frauen teilnahmen.“ Heute existiert Huj nicht mehr. Und Sderot ist unter Beschuss aus dem Gazastreifen.

Vor der israelischen Staatsgründung im Mai 1948 wurde der Druck auf das palästinensische Huj erhöht. “Die Juden haben einen Trick angewendet. Täglich kam der Chef der nebenan liegenden Siedlung in unser Dorf und sagte: ‚Die Haganah wird kommen und euch niedermetzeln.‘ Deshalb trauten wir uns nicht mehr, nachts in unseren Häusern zu bleiben, sondern schliefen auf den Feldern. Schliesslich kam der Chef der Siedlung und sagte: ‚Ich empfehle euch, das Dorf zu verlassen, sonst kommt die Haganah. Ich kann nichts dagegen unternehmen.‘ Das war eine grosse Lüge. Wir gingen fort, was ein Fehler war. Dort zu bleiben wäre besser gewesen als zu flüchten. Nachts, wenn die Erinnerung an mein Dorf kommt, in dem ich ein glückliches und sicheres Leben führte, kann ich nicht weiterschlafen.“
"Wir waren nicht gebildet"
Sie weint, während sie erzählt. “Wir waren nicht gebildet und haben alles geglaubt“, macht sie sich Vorwürfe. “Wir dachten, die Warnungen seien ernst gemeint. Wir gingen also zu Freunden in ein anderes Dorf nach Iserga in Gaza und zogen schliesslich in ein Zelt in einem Flüchtlingslager um. Trotzdem wurden wir bombardiert. Unser Zelt stand im Sand des Gazastrands. Weil dieses Land nicht fruchtbar war und niemand dort wohnte, hatte die UN an dieser Stelle das Flüchtlingslager Shati angelegt. Dann sind wir vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser, der UNWRA, registriert worden. Fünf Jahre später begann die UN im Shati-Camp mit dem Hausbau, anschliessend auch in Jabalia. Unsere Wahl war Jabalia, weil dort die Familie zusammenleben konnte.“
Die meisten der ehemaligen Dorfbewohner leben in Flüchtlingslagern im Gazastreifen. Andere Flüchtlinge aus Huj haben sich in Ägypten oder Jordanien niedergelassen. Die Beziehungen untereinander sind eng geblieben. Viele sind miteinander verwandt, und man besucht sich zu freudigen und traurigen Anlässen. Die Älteren tauschen Erinnerungen an ihre Kindheit in Huj aus. Doch zahlreiche der in Huj geborenen Flüchtlinge sind bereits gestorben und die Beziehungen werden zwangsläufig weniger.

Versuche, 1948 und später nach Huj zurückzukehren, endeten erfolglos. “Noch im selben Monat gingen unsere Männer zurück, weil Erntezeit war. Doch im Dorf war die Haganah. Sie fasste die Männer, manche wurden getötet“, erinnert sich Frau Al-Najar an die endgültige Aufgabe des Landes. “Niemand durfte zurück auf sein Land.“ Ein Grossteil davon gehört seither dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon. Später und bis zum Beginn der ersten Intifada 1988 durften Landarbeiter aus dem Gazastreifen auf seiner Farm zwischen Huj, Breir und Nejd (heute Ashderot) arbeiten. Sie berichteten, dass er das ehemalige Schulgelände von Huj als Schafstall nutzte.
Eine Familie, in die ganze Welt verstreut
“Mutti war 13 Jahre alt, als sie aus Huj wegging, und heiratete mit fünfzehn Jahren meinen Vater Muhammed, der 1999 verstarb“, sagt ihr Sohn, der in Deutschland promoviert hat. Die Mutter legte grossen Wert darauf, dass alle Kinder eine gute Ausbildung erhielten: “Zum einen, weil sie selbst keine Gelegenheit hatte, weiter eine Schule zu besuchen. Sie glaubt, dass wir unser Land und ganz Palästina deshalb verloren haben, weil wir im Gegensatz zu den Israelis nicht gebildet genug waren. Sie sagt, dass wir dumme Bauern waren. Und der zweite Grund ist, dass in Gaza kein Land für die Landwirtschaft zur Verfügung stand. Also mussten alle Kinder etwas lernen, damit sie Arbeit finden und überleben konnten“.
Frau Al-Najar hat vier Schwestern und zwei Brüder. Davon leben nicht alle im Gazastreifen. Ein Bruder ging nach Kuwait, um auf den dortigen Ölfeldern zu arbeiten. “Seine Söhne sind heute überall auf der Welt verstreut, zum Beispiel ist einer Arzt in Deutschland. Mein Bruder würde gerne nach Gaza kommen, um hier zu sterben. Er ist aber nicht als Flüchtling registriert und darf deshalb nicht einreisen.“
Der Artikel erschien im Auftrag Nr. 1/2009, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Bilder: Wiltrud Rösch-Metzler