Vor der weiss gekalkten Mauer der Grundschule spielen einige Jungen Fussball. Ein Windstoss fegt Staub und Blätter über den Platz. Am Strassenrand parken gelbe Taxis. Ihre Fahrer sitzen unter den Bäumen in der Frühlingssonne zusammen, trinken Tee und rauchen. Sie warten auf Kundschaft. Zwei abgemagerte Katzen machen sich über einen Müllsack her. Am Place de la résidence du leader herrscht Alltag. Alles scheint seinen gewohnten Lauf zu nehmen – auf den ersten Blick.
Von hier sind es nur wenige Schritte bis zur Kasbah, dem Machtzentrum Tunesiens, wo sich an der Place du gouvernement der Sitz des Premierministers Ali Larayedh und mehrere Ministerien befinden. Zuoberst am Platz thront das viel zu gross geratene Maison du parti. Es sieht aus wie ein DDR-Bau und war der Parteisitz des Rassemblement constitutionel démocratique RCD, der Partei des vormaligen autokratischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Rund um den Platz stehen Polizisten, immer in Dreier- oder Vierergruppen zusammen. Stacheldrahtverhaue verhindern, dass jemand zu nahe an den Regierungssitz Dar el Bey gelangt. An der einen Ecke steht ein leichter Panzer. Es zeigt sich hier, wie fragile die politische Situation im postrevolutionären Tunesien ist.
Wie es mit dem Erbe der Revolution von 2011 weiter geht, entscheidet sich daran, wer nach den Wahlen im kommenden Oktober in das Dar el Bey einziehen wird. Darüber sind sich alle einig. Nur, wer das sein wird, da gibt es bloss Mutmassungen, Spekulationen, Hoffnungen und Befürchtungen. Die politische Zukunft Tunesiens ist das vorherrschende Thema, wenn man sich auf der Strasse, in den Cafés oder auf dem Markt umhört. Da wird heftig diskutiert und gestritten. Die politische Auseinandersetzung findet ganz offensichtlich statt im Alltag. Dabei zeichnet sich ein ideologischer Kampf ab zwischen religiösen und laizistischen Kräften, wobei beide Lager mit unerbittlicher Vehemenz ihre Position vertreten. Institutionell festmachen lassen sich diese beiden Lager an der konservativ-religiösen Ennahda von Larayedh einerseits und der laizistischen Zentrumspartei Nidaa Tounes von Béji Caïd Essebsi. Jener wird am ehesten zugetraut, bei den Wahlen im Herbst die extrem gut organisierte Ennahda ernsthaft herauszufordern.

Kampf zwischen laizistischen und religiösen Kräften

Ridha greift nach dem langen Holzschieber und holt eine Pizza aus dem Ofen. Er wischt sich die mehligen Hände an der Schürze ab und füllt eine Papiertüte mit Makrouts, dem süssen Gebäck mit Dattelfüllung, das es in jeder Bäckerei gibt, zählt das Retourgeld und schiebt es zusammen mit der Papiertüte über die Theke. Im Hintergrund läuft im Fernseher das religiöse Programm von Zeitouna TV in der Endlosschlaufe. Ridha versteht die Aufregung um die Ennahda nicht, die oft im Ausland gemacht wird. Im Gegenteil: Für ihn ist die Ennahda die einzige Partei, welche die gegenwärtigen Probleme Tunesiens wirklich lösen kann. "Schau, wir haben zwei Probleme in Tunesien: die wirtschaftliche Misere und der Ausverkauf unsere Tradition und Werte", führt er aus und fährt sich dabei durch seinen langen Bart. "Die einzige Partei, die diese Probleme anpackt und nicht nur darüber spricht, das ist die Ennahda". Den anderen Parteien traut er nicht, da sie durchsetzt seien von ehemaligen Gefolgsleuten Ben Alis. Damit meint der Bäcker insbesondere die Nidaa Tounes und ihren Präsidenten Béji Caïd Essebsi, der Ben Alis RCD angehörte. Deshalb wird Ridha im Herbst für die Ennahda stimmen.
Ein dramatisches Bild der politischen Zukunft Tunesiens zeichnet hingegen Samya. Die knapp sechzigjährige Frau leitete eine der wichtigsten Bibliotheken des Landes. Seit kurzem ist sie pensioniert. Besorgt schweift ihr Blick von der ausladenden Dachterasse des Altstadthauses über die Medina: "Das Problem mit der Ennahda ist, dass sie ein doppeltes Spiel spielen. Sie nutzt die Demokratie, um ihre undemokratischen Ideen durchzusetzen." Im Herbst stehe die Zukunft des Landes auf dem Spiel. "Gewinnt die Ennahda, dann geben sie die Macht nicht mehr her – für Jahrzehnte!", ist sie überzeugt. Vordringlichste Aufgabe sei es, im Hinblick auf die Wahlen alle oppositionellen Kräfte zu sammeln, um der Ennahda etwas entgegensetzen zu können. Beunruhigt ist Samya insbesondere durch die fortwährenden Andeutungen verschiedener Ennahda-Exponenten zu den Rechten der Frau.

Frauenrechte in Gefahr

Viele tunesische Frauenrechtlerinnen sehen das ähnlich. In einem früheren Entwurf der neuen tunesischen Verfassung, die derzeit ausgearbeitet wird, hat die Ennahda letzten Sommer einen umstrittenen Artikel eingebracht, der vom Übergangsparlament Assemblée nationale constitutante ANC auch so verabschiedet wurde: "Der Staat garantiert Rechte und Errungenschaften der Frau, nach dem Prinzip der Komplementarität zum Mann …", stand da in Artikel 28. Die Befürchtung war, dass mit dem Begriff der Komplementarität statt jenem der Gleichheit, der Beschneidung der Rechte der Frauen Tür und Tor geöffnet werden. Nach heftigen Protesten und Demonstrationen im vergangenen Sommer, wurde diese Formulierung dann jedoch wieder fallen gelassen.
Die Episode um Artikel 28 zeigt erstens, dass auf einmal wieder Dinge in Frage gestellt werden, die seit der Unabhängigkeit nie zur Diskussion standen. So wurde das Stimm- und Wahlrecht für die Tunesierinnen in der ersten Verfassung von 1956 des unabhängigen Tunesiens festgeschrieben. Das war fünfzehn Jahre vor der Schweiz. Zweitens sind die Proteste aber auch ein Hinweis, dass durchaus eine funktionierende tunesische Zivilgesellschaft existiert.

Der politische Gegner wird zum Feind

Im Gegensatz zur Ben Ali-Ära, als über dem Land ein bleiernes Schweigen lag, wird immer und überall über Politik diskutiert, vom Taxifahrer bis zum Obstverkäufer, von der Studentin bis zur Anwältin. Die politischen Auseinandersetzungen werden heftig geführt. Eine harmlos beginnende Diskussion mit dem Zeitungsverkäufer schlägt schnell in einen lautstarken Streit um. Bisweilen werden die Auseinandersetzungen auch jenseits demokratischer Spielregeln geführt. Ein Beispiel sind die wiederholten Angriffe auf Versammlungen der zentristischen Partei Nidaa Tounes durch die islamistische Miliz Ligue de la Protection de la révolution LPR, die der Ennahda nahe steht. Erst kürzlich im April versuchte die LPR wieder, eine von Nidaa Tounes organisierte Veranstaltung in Gafsa zu stören. Auch ein Überfall auf den Sitz der gesamttunesischen Gewerkschaft UGTT vom Dezember 2012 soll auf das Konto der LPR gehen. Die politischen Morde am Front populaire Führer Chokri Belaïd und am Nidaa Tounes Repräsentanten Lotfi Nagdh werden auch den LPR-Kreisen angerechnet. Und der beliebte Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi soll am 25. Juli sogar mit derselben Waffe wie Belaïd erschossen worden sein.
Während die einen Beobachter diese "Konfrontationen" – immerhin sind dies drei politisch motivierte Morde in einem halben Jahr! – bloss als die Auswüchse des gesellschaftlichen Lernprozesses abtun, wie politische Konfrontationen in einer Demokratie ausgetragen werden, so sind die anderen besorgt, dass es die Vorzeichen für eine erneute autoritäre Wende sind. Eines zeigte sich jedoch: Die Zivilgesellschaft ist – im Moment noch – durchaus zu einer Reaktion fähig. So zogen nach der Ermordung Brahmis Zehntausende durch Tunis und forderten vor dem Parlamentssitz den Rücktritt der Regierung. Und auch nach einem Monat finden immer noch Sit-ins vor dem Parlament statt, um gegen die Untätigkeit der Regierung zu protestieren.

Verschiedenste Welten auf engstem Raum

Der tiefe politische Graben verläuft jedoch nicht nur zwischen Laizisten und Religiösen, sondern ebenso zwischen einer ökonomisch abgehängten Unterschicht und dem gebildeten Mittelstand. Der Bäcker Riadh und die Bibliothekarin Samya stehen exemplarisch für diese Situation. Obwohl sie nur gut hundert Meter voneinander entfernt im Quartier Bab Menara wohnen, trennen die beiden doch Welten: Ersterer fürchtet sich vor dem sozio-ökonomischen Abstieg. Hier bietet die Ennahda eine islamisch-konservative Heimat gegen die einbrechende neoliberale Moderne. Dabei darf jedoch nicht vergessen gehen, dass neben dieser falschen Antwort auf die reale Bedrohung die Partei mit ihren Hilfsprojekten ganz einfach echte ökonomische Hilfe leistet für Menschen aus der defavorisierten Unterschicht, die seit der Revolution noch mehr unter Druck geraten sind. Letztere hingegen fürchtet sich vor der drohenden konservativen Wende, welche die Errungenschaften einer aufgeklärten Moderne bedroht.
Für die gesellschaftliche Zukunft Tunesiens vorsichtig zuversichtlich stimmt der Umstand, dass diese antagonistischen Positionen im öffentlichen Raum verhandelt werden.
David Loher ist Sozialanthropologe und forscht im Rahmen des SNF-Projekts "How Does Border Occur?" am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern zum Europäischen Migrationsregime.