
Welten zwischen Inseln
Manchmal reichen 5,8 Quadratkilometer für das Nebeneinander von Staatsstreichen, Straßenwahlkampf und Strandidylle. Malé, die Hauptinsel der Malediven, gleicht einer Sardinenbüchse. 123’000 Menschen auf engstem Raum, über 21’000 Einwohner auf einem Quadratkilometer. Das macht erfinderisch. Die Insel sieht aus wie ein pausiertes Tetris-Spiel. Häuserwände keilen sich in unterschiedlichsten Formen und Farben ineinander. Hier liegt das pulsierende Herz des Inselstaates. Ein Drittel der Bevölkerung lebt auf der 1,8 Kilometer langen Insel. Schnittige Schnellboote und langsame Blechkähne legen im Hafen von Malé an und ab. Hier ist das Meer die Autobahn. Städte und Dörfer sind eigene Inseln.
Wirtschaft und Logistik bleiben auf den 26 Atollen mit insgesamt 1’196 Inseln eine Herausforderung. 220 Inseln sind bewohnt, 87 davon inzwischen touristisch erschlossen, jedes Jahr werden es mehr. Das einträgliche Geschäft mit dem Luxus führte Maumoon Abdul Gayoom ein, der den Inselstaat zwischen 1978 und 2008 autokratisch regierte und unbewohnte Inseln Investoren zur Bewirtschaftung überließ – meist aus seinem eigenen Umkreis. Inzwischen tragen die Einnahmen aus dem Tourismus über 30 Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei.
Bis zu mehrere tausend Dollar kann eine einzige Nacht unter Palmen am Strand mit hauseigenem Whirlpool kosten. Drinks mit bunten Schirmchen werden über die Cocktailbar neben dem Poolbecken gereicht, das Personal steht akkurat herausgeputzt, nett lächelnd am Restauranttisch und stutzt die Rasenkanten am hoteleigenen Tennisplatz. Eine Welt wie auf dem Plakat. Bunte Wasserflugzeuge und weiße Yachten transportieren leichtbekleidete Touristen direkt vom Flughafen in ihre Strandbungalows.
Nur ein paar Bootsminuten weiter ist Alkohol unter Strafe verboten. Selbst in den Resorts darf dem Gesetz nach keinem Malediver Hochprozentiges ausgeschenkt werden. Die Verfassung schreibt den sunnitischen Islam als einzig zulässige Religion vor – Resultat des innenpolitischen Islamisierungskurses, den Abdul Gayoom parallel zum Ausbau des Tourismus einschlug. Der heute 77-jährige Ex-Präsident hatte von 1950 bis 1966 an der Al-Azhar-Universität in Kairo studiert, seine religiöse Ausbildung brachte er in die heimatliche Politik und machte sie zu seinem Herrschaftsinstrument. Unter dem Vorwand der Islambeleidigung wurden kritische Journalisten mundtot gemacht und politische Gegner eingesperrt.
In der Politik haben religiöse Hardliner aber de facto wenig zu sagen. Zwar gehörten Islamisten auch der Koalition an, die Diktator Abdul Gayoom 2008 zu Fall brachte, doch der Tourismus gibt weiterhin für alle politischen Kräfte die Richtung vor. Umfassende Alkohol- oder Schweinefleischverbote wären Gift für den wichtigsten Wirtschaftssektor. Einige Resorts werben mit ihren wohlsortierten Weinkellern und bieten meist auch eine Auswahl an Schinkenspezialitäten. Für die Hotelanlagen gelten eigene Regeln. In einigen Fällen sogar eigene Zeitzonen, damit der Gast pünktlich zum Abendessen den Sonnenuntergang genießen kann.
Doch die wechselnden weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse geben auch dem Tourismus auf den Malediven eine neue Facette. Denn längst verwirklichen immer mehr Besucher aus Asien, besonders aus China, ihren Urlaubstraum auf den Inseln im Indischen Ozean. Während des Ramadan residieren Araber aus der Golfregion gern in den Villen am Strand. In den Resorts hat man sich bereits mit besonderen architektonischen Anfertigungen auf die arabischen Gäste eingestellt. Der Pool ist in einigen Villen nicht auf der Meerseite gebaut, sondern sichtgeschützt an der Hinterseite angelegt worden. Hier können die Frauen der Scheichs ungestört vor neugierigen Blicken die Wellness-Oase genießen.
Luxus braucht Arbeitskräfte. Etwa 20’000 Malediver sind in der Tourismusbranche beschäftigt. Während westliche Expats wegen des Fachkräftemangels die Resorts meist leiten, kommt das Dienstpersonal zum großen Teil aus Thailand oder Sri Lanka. Ausländische Gastarbeiter sind aus dem hiesigen Dienstleistungsmodell nicht wegzudenken. Insgesamt 100’000 Menschen, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, sind importierte Arbeitskräfte, 80’000 kommen aus Bangladesch. Viele sind illegal im Land und unterliegen keinem Arbeitsschutzgesetz. Nur ein paar Flugstunden von Malé entfernt preisen Vermittler in bengalischen Dörfern die Malediven als Arbeitsparadies an. Für eine Vermittlungsgebühr von etwa 2’000 US-Dollar versprechen sie einen sicheren Job – Sonne, Palmen und Strandpromenade inklusive.
So landen Menschen wie Abulhussein auf den Atollen. Er sah eine Möglichkeit, seine Familie zu unterstützen und ließ seine Frau und drei Kinder zurück. Wie vereinbart landete er über seinen Vermittler bei einer Reederei, arbeitete auf eine Fähre, verdiente Geld und konnte etwas davon nach Hause schicken. Nach einigen Monaten musste das Schiff seinen Betrieb einstellen. Abulhussein verlor seinen Job und merkte plötzlich, dass ihm eine Arbeitserlaubnis fehle.
Dann verschlug es ihn auf die Müllinsel Thilafushi. Sie liegt kaum übersehbar wie ein rauchender Schornstein nur ein paar Schiffsminuten von Malé entfernt. Luxus produziert Abfall und das Meer hat nur eine begrenzte Aufnahmekapazität für Plastiktüten und Plastikflaschen. Die anlegenden Boote haben all das geladen, was nicht schnell auf den Inseln verbrannt werden kann. Täglich sucht und sortiert er nun Altmetall zwischen verfaulendem organischen Abfall, ausgerüstet mit viel zu großen Schuhen und einem länglichen Eisenhaken. Um ihn herum schwirren tausende Schmeißfliegen. Auf seinem Nacken hat sich ein verkrusteter Ausschlag entwickelt.
Abulhusseins Familie weiß nicht, wo er arbeitet. Seit mehreren Monaten wartet er vergeblich auf seinen Lohn. Jedes Mal vertröstet ihn der Betreiber der Mülldeponie aufs Neue. Inzwischen sind es sieben Monate. Doch wenn er jetzt gehe, sehe er sein Geld nie. Außerdem weiß Abulhussein nicht, wo er sonst arbeiten soll.
Dieses Schicksal teilt er mit zehntausenden ausländischen Arbeitern. Der Handel mit Gastarbeitern aus den umliegenden südasiatischen Ländern ist ein einträgliches Geschäft auf den Malediven und wichtiger Devisenbringer. Aus diesem Grunde steht der Inselstaat unter Beobachtung des amerikanischen Außenministeriums. Ändert sich nichts, drohen Sanktionen.
Die Regierung hat bisher die Augen vor dem Problem verschlossen. Nicht nur in der Tourismus-, auch in der Bau- und Industriebranche sparen billige Arbeitskräfte aus dem Ausland viel Geld. Unter den Maledivern hingegen steigt die Arbeitslosigkeit stetig. Die makroökonomischen Rahmendaten sind ein Paradox: Die Vereinten Nationen zählen die Malediven zu den ärmsten Ländern der Welt, statistisch betrachtet haben sie aber eines der höchsten Pro-Kopf Einkommen Asiens. Der Wohlstand residiert auf den Hotelinseln. Das dichtbebaute Malé hingegen schlägt sich mit der Politik des Landes herum.
Mohamed Nasheed versuchte diese Schere zwischen den Welten etwas zu verringern. Er führte während seiner Amtszeit als Präsident ab 2008 eine Krankenversicherung und den Mutterschutz ein, baute die Infrastruktur in der Hauptstadt aus und zwang die Resort-Besitzer Steuern zu zahlen.
International gewann Nasheed mit seinem flammenden Appell für den Kampf gegen Erderwärmung und den steigenden Meeresspiegel viele Sympathien. Im Innern aber griff er hart gegen Demonstranten durch – und gab seinen Gegnern die Chance zum Comeback. Nach dem erzwungenen Rücktritt vor laufenden Kameras 2012 unterlag Nasheed ein Jahr später seinem Kontrahenten Abdulla Yameen bei den Präsidentschaftswahlen, die sich über Wochen hinzogen, bis das gewünschte Ergebnis für Yameen erzielt wurde. Bereits unter seinem Halbbruder, Autokrat Abdul Gayoom, hatte Yameen die Posten des Handels-, Tourismus- und Bildungsministers inne.
Doch die Wahlen sind das schwache Signal eines historischen Wandels. Mohamed Ameen Didi, der erste Präsident der Malediven, wurde 1954 nach seiner Absetzung von einem Mob gelyncht, sein Nachfolger Ibrahim Nasir verließ das Land 1978 ins Exil. Erst 2008 wurde erstmals ein Präsident durch demokratische Wahlen seines Amtes enthoben. 2014 sitzt der nun 47-jährige Mohamed Nasheed bei den Qualifikationsspielen zur Asien-Fußballmeisterschaft auf der Tribüne neben seinem alten politischen Konkurrenten Abdul Gayoom. Dessen Folterknechte zwangen ihn einst Glassplitter zu schlucken. Heute nehmen sie gemeinsam "Selfies" auf.
In einem Land, in dem vor 2014 nie ein ehemaliger neben einem amtierenden Präsidenten saß, können nur kleine Schritte genommen werden. Die Gesellschaft der Malediven wirkt wie auf einer Gratwanderung zwischen Frömmigkeit, Surfer-Kultur und Anschluss an die globalisierte Welt. An der Strandpromenade von Malé versammeln sich Jugendliche, die verhalten Händchen halten. Die Kopftücher der Mädchen knallbunt, die Hosen hauteng. In den Wellen unweit vom Ufer tauchen ab und an die Köpfe braungebrannter Surfer auf, die auf die richtige Welle warten.