«Wenn du Hunger hast, denkst du nicht langfristig»
Hunderte von Bauern hatten sich zu einem Protestmarsch Richtung Hauptstadt aufgemacht. Ganze Familien campierten während Monaten mitten in der Regenzeit am Strassenrand der Panamericana, um auf ihre erbärmliche Situation aufmerksam zu machen. Diese Bilder aus dem Jahr 2002 von einer Reise aus Managua in den Norden Nicaraguas haben sich bei mir eingeprägt. Auf dem Weltmarkt waren die Kaffeepreise drastisch gesunken, das Geschäft lohnte sich nicht mehr. Die internationale Kaffeekrise zeigte erste dramatische Auswirkungen. 90 Prozent der nicaraguanischen LandarbeiterInnen, die auf den Kaffee-Fincas arbeiteten, verloren ihre Existenzgrundlage. Kaffee wächst in Nicaragua mehrheitlich für den Export. Direkt von dessen Preis auf dem Weltmarkt hängt der Wohlstand vieler Menschen ab. Kooperativen, welche zertifiziert waren, konnten sich glücklich schätzen, da sie den Fair-Trade-Mindestpreis erhielten, welcher in dieser Zeit markant über dem Weltmarktpreis lag.
Rohstoffpreise explodieren
2011 sieht die Situation anders aus. Die Kaffeepreise sind – wie auch die Preise vieler anderer Rohstoffe (zum Beispiel Zucker oder Kakao) – am Explodieren, es herrscht ein grosses Auf und Ab im Markt. Der Weltmarktpreis ist erheblich über den Fair-Trade-Mindestpreis gestiegen und die Bauernkooperativen erhalten auf dem Weltmarkt mehr. Viele Organisationen bekommen Schwierigkeiten, da sie schon tiefe Vertragspreise mit ihren Kunden vereinbart haben. Viele Kooperativen können ihre Kontrakte mit ihren Fair-Trade-Kunden nicht mehr halten, da die Bäuerinnen und Bauern den Kaffee an den Meistbietenden verkaufen. Diese Zwischenhändler werden hier Coyotes, "Präriewölfe", genannt. Sie zahlen bar und zur Zeit einen guten Preis. In Peru sind es dieses Jahr sicherlich 100 Container Kaffee, die nicht an ihre ursprünglich vereinbarten Empfänger gehen. Die Nichteinhaltung von Verträgen kann eine "De-Zertifizierung" seitens der Fairtrade Labelling Organizations (FLO) bewirken, wie auch für eine Kooperative.
Fair Trade am Wendepunkt?
Was bringt ProduzentInnen dazu, ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse weiterhin an die Fair-Trade-Kooperative abzuliefern, obschon es jetzt dort kein höheres Einkommen mehr gibt? Rosamelia Centeno, Kaffeeproduzentin in El Jocote in Nicaragua, erklärt, dass sie ihren Kaffee auch künftig ihrer Kooperative abliefere. Denn diese Organisation habe ihr in den letzten zehn Jahren geholfen sich selber zu entwickeln, den Zugang zum internationalen Markt zu finden und mit den Fair-Trade-Prämien die Schulkosten ihrer Enkelkinder zu finanzieren. Zusätzlich konnte sie an Weiterbildungen und sogar im Ausland an einer Messe teilnehmen. Viele ihrer Kolleginnen sehen sich aber gezwungen, ihren Kaffee den Coyotes abzuliefern, da diese einen höheren Preis bezahlen. "Wenn du Hunger hast, denkst du nicht langfristig", sagt Rosamelia. Der grosse Vorteil der Coyotes sei die Barzahlung. Auch hole der Coyote den Kaffee direkt am Wohnort, während der Kaffee für die Kooperative bis zu fünf Stunden zum Aufbereitungszentrum transportiert werden muss. So müsse man schon verstehen, dass die Not viele Bäuerinnen dazu veranlasse, die Verträge mit langjährigen Kunden zu vernachlässigen und sogar die Existenz der Kooperative aufs Spiel zu setzen. "Viele meiner Kolleginnen verstehen nicht, worum es bei der Fair-Trade-Zertifizierung wirklich geht. Die Reglemente von FLO sind viel zu komplex für Leute, die kaum lesen und schreiben können", meint Rosamelia. Offenbar haben die Fairtrade Labelling Organizations dies erkannt und die neuen Standards in einer produzentenfreundlicheren Sprache verfasst (siehe "Neue Standards für den Fairen Handel"). Auch wenn bei der Entwicklung dieser Standards die Produzenten einbezogen wurden, fühlt sich Santiago Paz López, Co-Geschäftsführer der peruanischen Kooperative Cepicafé von FLO nicht ernst genommen.
Business as usual?
Der Peruaner wirft FLO vor, einen ungleichen Wettbewerb zu unterstützen und sich mehr und mehr vom Grundgedanken der Solidarität für den Süden zu entfernen. Multinationale Firmen profilieren ihr so genannt nachhaltiges Wirtschaften mit Fair-Trade-Produkten. Die ursprüngliche Idee des Fairen Handels geht verloren. Santiago Paz López: "Wir haben (mit FLO) eine Organisation geschaffen, über welche wir (als Kleinbauern) die Kontrolle verloren haben. FLO ist heute sehr abhängig von den grossen Organisationen." Es würden diejenigen Produzenten berücksichtigt und gefördert, welche die beste Rentabilität haben. Die "alte Garde" habe keine Stimme mehr bei FLO. Die wenigen, welche die Dynamik von Fair Trade verstanden und sich eingesetzt hätten, seien durch neue Leute ersetzt worden. So habe sich der Faire Handel – wie auch schon der Bio-Bereich – zum reinen Business gewandelt. Doch noch immer blieben die Konsumenten im Glauben, dass das Fair-Trade-Markenzeichen nur Kleinbauern vertrete. Die Realität sei jedoch: Es braucht Volumen, Volumen und nochmals Volumen, um die Nachfrage der Grosskonzerne zu decken. Es werde immer mehr ein Geschäft zwischen den grossen Importeuren und den grossen Produzenten.
Neue Standards für den Fairen Handel
Am 1. Juli 2011 ist das "New Standards Framework" der Fairtrade Labelling Organizations (FLO) in Kraft getreten. Die wichtigsten Änderungen betreffen:
- Unterteilung in Kern- und Entwicklungskriterien
- Vereinfachte Sprache
- Einheitliche Strukturierung der Fair-Trade-Standards
- Neue Aufteilung in den Produktestandards
- Neue Regeln für zusammengesetzte Produkte (Composites)
- Neue Umweltstandards
- Liste verbotener Substanzen
Gemäss Pressemitteilung von Max Havelaar ging ein mehrjähriger weltweiter Konsultationsprozess mit Produzentenorganisationen und weiteren Stakeholdern voraus (www.maxhavelaar.ch).
Dieser Beitrag erschien im terrafair, dem Magazin für Nachhaltigkeit in Produktion, Handel und Konsum (www.terrafair.org), Nr. 21 vom August 2011. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Weitere Informationen: www.cepicafe.com.pe (spanisch), http://fairtrade.net (englisch)