Widerspruch: Bildung und Marktregime
Basel, 12.02.2013, akte/ Das Bildungssystem der Schweiz ist seit vielen Jahren eine Baustelle. Reform um Reform wird mit Sachzwängen begründet, die scheinbar keine andere Möglichkeit offenlassen. Umso erfrischender ist die Analyse und Kritik dieser Reformen durch die Bildungsexpertinnen und -experten, die im aktuellen Widerspruch zu Wort kommen. Sie durchleuchten die Ideologien und die Kräfte, die das Bildungssystem umformen.
Bildungspolitik als Teil des globalen Standortwettbewerbs
Einst sollte die Bildung dem sozialen Zusammenhalt dienen, sie sollte die Bürger einer Nation befähigen, demokratische staatsbürgerliche Verantwortung zu tragen. Ein möglichst breites Allgemeinwissen sollte den Austausch unter den Gebildeten und so eine gemeinsame Entscheidungsfindung ermöglichen. Bildung sollte das Individuum emanzipieren, es mündig und handlungsfähig machen. Heute aber, so die einhellige Meinung der AutorInnen, dient Bildung dem globalen Standortwettbewerb. Es werden Eliten herangezüchtet, damit sie durch Innovationen den Markt beflügeln (Ulrich Brand, Professor der Universität Wien, S. 8). Die Ausrichtung auf Eliten zeigt sich sowohl bei den öffentlichen Bildungsausgaben, die sich weg von der reinen Bildung in Richtung Forschung und Innovation verschoben hat, ebenso wie durch die Lohnentwicklung, die zwischen 2002 und 2010 den oberen Kadern mit Uniabschluss 14 Prozent Reallohnzuwachs, den Berufsleuten mit Lehrabschluss hingegen einen Reallohnverlust um 3.5 Prozent beschert hat (Veronique Polito, Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, S. 21). Im Zuge dieser Entwicklung ist auch der Anteil der TieflöhnerInnen mit Lehrabschluss gestiegen. Gerade Frauen mit Lehrabschluss in Teilen des Dienstleistungssektors – zum Beispiel in Gastronomie und Tourismus – sind oft von langen und unregelmässigen Arbeitszeiten, unsicheren Vertragsverhältnissen und schlechten Löhnen betroffen. Die Akademisierung der Berufswelt führt zu einer Umverteilung des Wohlstands auf Kosten der Berufslernenden mit Lehrabschluss. Und Menschen ohne Bildungsabschluss werden in dieser verbildeten Gesellschaft an den Rand gestellt (Hannes Lindenmeyer, S. 65f).
Lebenslanges Lernen – ohne Garantie auf Erfolg
Gemeinhin scheinen alle Akteure der Bildung ihr Handeln auf der "mehr oder weniger expliziten Leitvorstellung, nämlich an der Berufsförmigkeit der Qualifikationen" zu orientieren, meint Karl Weber, emeritierter Soziologieprofessor der Universität Bern. Dabei ändern sich die Anforderungen so oft wie die Berufsbilder. Deshalb postulieren UNESCO und OECD seit Anfang der Siebzigerjahre das "Lebenslange Lernen" (Ulrich Klemm, Diplompädagoge und Dozent, S. 173). Es geht um die Hervorbringung "leistungsstarke[r], selbstoptimierende[r], kognitiv fitte[r] Sozialcharaktere" (Eva Borst, Professorin der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, S. 166). Es interessieren dabei nicht mehr die Fähigkeiten zu Abstraktion, zum Problemlösen und zum Diskutieren, sondern Fertigkeiten, die unmittelbar im Job zur Anwendung gelangen können. Dumm nur, dass die Investitionen in die persönliche Weiterbildung zur Steigerung des eigenen Marktwerts sich nur für die Fittesten lohnt. Denn eine weitere Tendenz des aktuellen Bildungssystems ortet Thomas Ragni, Mitarbeiter des Staatssekretariats für Wirtschaft, im Grundsatz des "The-Winner-takes-it-all": So wie im Sport entspricht die Entlohnung nicht der effektiven (Bildungs-)Leistung, sondern dem Rang: Der oder die mit dem besten Abschluss, mit den besten Noten, den meisten Publikationen, erhält den Job mit dem Toplohn, die anderen erhalten trotz annähernd gleicher Bildung nicht etwas, sondern viel weniger (S. 151).
Globales Lernen – Lernen für den sozialen Zusammenhalt
Wie es zur Akademisierung, der ungleichen Belohnung der Berufsabschlüsse, dem Tunnelblick auf den Markt, der Privatisierung der Bildung und der damit zusammenhängenden Kürzung oder Streichung der Stipendien kam, beleuchten die Basler Soziologen Peter Streckeisen, Ueli Mäder und Hector Schmassmann. All diese Entwicklungen wirken dem sozialen Zusammenhalt entgegen. Bereits haben Proteste von Jung und Alt in Chile gegen das neoliberale Bildungsmodell zu Repressalien geführt (Leonor Abujatum Berndt, S. 113f). In der Autonomen Schule in Zürich gestalten die Beteiligten ihre eigene emanzipatorische Bildung (Diskussionsgruppe ASZ, S. 103f). Junge Männer der britischen "underclass" verweigern sich dem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt, um ihren "Eigen-Sinn" zur erhalten (Rolf Bosshard, S. 183f). Ansätze, wie eine emanzipatorische Bildung heute aussehen könnte, werden durch verschiedene AutorInnen vorgestellt. Ein Stichwort ist das globale Lernen: Es hat eine "für Lernprozesse, Emanzipation und gleichberechtigten Austausch offene, wirtschaftliche Interessen und Machtansprüche in Schranken weisende Gesellschaft zum Ziel" (Klemm, S. 174). Um dies zu erreichen, werden Probleme statt nur Tatsachen benannt, abstraktes statt (nur) sinnliches Lernen gefördert, Entscheidungsfreude und die Kompetenz zum Fragestellen gefördert, der Umgang mit Unwissen und Unsicherheit geübt und der Perspektivenwechsel kultiviert.
WIDERSPRUCH Nr. 63: Bildung und Marktregime. Walter Schöni (verantw.), Rolf Bosshard, Johannes Gruber, Riccardo Pardini, Urs Sekinger, Stephan Tschirren, Therese Wüthrich (Hrsg.), Rotpunktverlag, Zürich 2013, 224 Seiten, CHF 25.00, EUR 18.00. ISBN 978-3-85869-563-5, ISSN 1420-0945.
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