Widerspruch Nr.52, 27. Jg/2. Halbjahr 2007: Ungleichheit, Ausgrenzung und soziale Gerechtigkeit
Die Widerspruch-Redaktion hat sich mit diesem zweifellos aktuellen Thema einiges vorgenommen. Denn leicht liessen sich dazu Bände füllen, schwerer fällt es, eine relevante Auswahl von Aspekten zu treffen. Der Einstieg ist etwas steil: Knochentrockene soziologische Beiträge reflektieren, welche neueren Methoden und theoretischen Konzepte die gesellschaftliche Schichtungsmechanismen besser erfassen als die Zweiklassengesellschaft nach marxistischem Modell. Klaus Dörre warnt vor der Umdefinierung der Klasse zu einem sozialen Ordnungsbegriff, der von einer „Position der Mitte“ heraus Verwahrlosung, Wertezerfall und Antibürgerlichkeit der Unterschichten brandmarkt. Ilse Lenz schlägt ihrem Beitrag zur „Ungleichheiten, Egalisierung und Geschlecht“ vor, die Reflexion über das konstruierte Geschlecht mit der Frage nach der wirtschaftlichen, sozialen und ökonomischen Teilhabe zu verbinden. Kritisch gegenüber dem „postmodernen Interesse an ‚neuen’ Ungleichheiten“ äussert sich René Levy. Er kritisiert, dass in vielen neueren Studien vor allem individuelle Auf- und Abstiegsbewegungen und ihre Bedingungen, kaum aber die institutionellen Prozesse im Ungleichheitssystem selber untersucht würden. Ausserdem erlaubten bei den so angelegten Studien die länder-, branchen-, verwaltungs- und geschlechtsspezifischen Unterschiede kaum Vergleiche. Daraus schliesst er, dass womöglich nicht die Gesellschaft sich auflöse, sondern die Griffigkeit der in den gängigen Studien benützen Konzepte und Methoden.
In einem zweiten Teil des Bandes werden einzelne Fragen zur Ungleichheit herausgegriffen: Wie korrelieren Klasse und politisches Verhalten in der Schweiz und in Deutschland? Wie lassen sich der soziale Kampf und die Streikfähigkeit in der Schweiz stärken? Was bedeutet die Alterung der Gesellschaft für die Frauen in der Pflegearbeit? Wie unterläuft die schulische Selektion die Bildungsgerechtigkeit? Warum schützt lebenslanges Lernen nicht vor Prekarität? Warum führt der Agrotreibstoff zu mehr Hunger?
Schliesslich werden gesellschaftliche Forderungen nach Grundeinkommen und Mindestlöhnen auf ihre möglichen Wirkungen hin überprüft. Kann ein minimalstes Grundeinkommen – womöglich unterhalb der Armutsgrenze – den Sozialstaat und das progressive Steuersystem ersetzen, wie nicht nur von linken, sondern auch von liberalen und anthroposophischen Kreisen angeregt wird? Wäre es das „Ende der ökonomischen Existenzangst, die allein – nach herrschender neoliberaler Weisheit – die Leute zur ‚Leistung’ treibt“, wie Michael Krätke argumentiert. Über die Erfolge der gewerkschaftlichen Kampagne „Keine Löhne unter 3000 Franken“ schreiben Andreas Rieger und Hans Baumann, die für eine europäische Mindestlohnpolitik und die Festlegung eines Mindestlohnes im Schweizer Normalarbeitsvertrag plädieren.
Zusammen mit den spannenden Rezensionen gibt der neue Widerspruch durchaus den Boden für ein qualifiziertes widerständisches politisches Denken und Handeln gegen die Ausgrenzung in vielen Bereichen der Gesellschaft.
Widerspruch, Zürich 2007, 27. Jg./2. Halbjahr 2007, SFr. 25.-; Euro 16.-;ISSN 1420-0945; Zu beziehen bei: Widerspruch, Postfach, CZH-8031 Zürich, Tel./Fax: +41 (0)44 273 03 02, vertrieb(at)widerspruch.ch, www.widerspruch.ch