Der arbeitskreis tourismus & entwicklung gratuliert Pro Natura, der Anwältin und Meinungsmacherin für Naturschutz in der Schweiz, zu ihrem 100. Geburtstag, und wartet mit einem Geburtstagsgeschenk auf: Ein kommentierter Link unter der Rubrik Jung & Fair verweist auf das attraktive Angebot der Pro Natura Ferienarbeitswochen.
Zu den Erfolgen von Pro Natura gehört der Schweizerische Nationalpark im Oberengadin, grösste Herausforderung ist die rasche Zersiedelung der Schweiz. Hierzu ein Beitrag von Otto Sieber, Zentralsekretär von Pro Natura.

Mehr und mehr Menschen nehmen wahr, dass die Landschaft, die sie umgibt, immer eintöniger wird. Erholungsraum geht verloren. Kulturland verschwindet unter Siedlungen und Strassen. Einkaufszentren und Lagerhallen entlang den Autobahnen gleichen sich. Dörfer, aus denen heraus Einfamilienhausquartiere quellen, verlieren ihren Charakter. Erstmals seit den siebziger Jahren („Alle Jahre wieder, saust der Presslufthammer nieder“1) breitet sich in der Öffentlichkeit ein Unbehagen über die ungebremste Zersiedelung der Landschaft aus. Es ist wieder von den ‚Landschaftsfressern’ die Rede. Der Eindruck trügt nicht. Seit Jahrzehnten wird in der Schweiz jede Sekunde fast ein Quadratmeter Land überbaut. Jeden Tag sind es zehn Fussballfelder und jedes Jahr die Fläche des Brienzersees.
Boden, Raum und Landschaft sind begrenzte Ressourcen. Trotzdem gehen wir mit ihnen um, als hätten wir eine zweite Schweiz im Hosensack, wenn die erste verbaut ist. „Die Raumentwicklung in der Schweiz ist nicht nachhaltig.“ Dieses Fazit stammt aus amtlicher Quelle. Es steht im Raumentwicklungsbericht 2005 des Bundesamts für Raumentwicklung. Die Feststellung wird weit herum geteilt. Die kantonalen Baudirektoren sind sich darin einig mit den Natur- und Landschaftsschutzorganisationen.

Die Raumentwicklung ist nicht nachhaltig

Neue Grundlagendaten unterstreichen, wie drastisch die Situation ist. Die erste Bauzonenstatistik des Amts für Raumentwicklung vom Oktober 2008  weist ein massives Überangebot an Bauzonen nach. Bis im Jahr 2030 wird nicht einmal die Hälfte des 2007 unbebauten Baulands benötigt werden, wie der begleitende Expertenbericht  im Auftrag des ARE aufzeigt. Die Nationalfonds-Studie „Landschaftszersiedelung Schweiz“ vom Juli 2008  beschreibt die Zersiedelung mit eindrücklichen Bildern. Zwischen dem Boden- und dem Genfersee gibt es kaum mehr einen Quadratkilometer ohne Häuser und Strassen. Die Zersiedelung greift aber auch zunehmend vom Mittelland her in die Alpentäler hinein. Im Wallis und im Südtessin ist sie bereits weit fortgeschritten. Mit jedem Gebäude in unbebautem Gebiet und mit jeder neuen Strasse gehen Lebensräume verloren, werden Habitate zerschnitten. Die Wissenschaftler schlagen 14 Massnahmen vor, um diese Entwicklung umzulenken. Eine davon ist die Kontingentierung der Bauzonen, wie es die Landschaftsinitiative verlangt. Sie wird von den Autoren explizit unterstützt.Was ist schief gelaufen? Seit 1969 gibt es den  Raumplanungsartikel in der Bundesverfassung und seit 1980 ist das Raumplanungsgesetz in Kraft. Beide haben für eine besser geordnete Besiedelung gesorgt als das früher der Fall war. Seither werden Bauzonen von der Landwirtschaftszone getrennt, Industrie-, Gewerbe- und Schutzzonen bezeichnet. Minutiös wird festgelegt, wo man wie viel und wie hoch bauen darf. Einzelne Kantone und Gemeinden sind auch tatsächlich haushälterisch mit ihrem Raum umgegangen. Ein Hauptzweck der Raumplanung, nämlich eine auf Dauer haushälterische Nutzung des Bodens, wurde bisher allerdings nicht erreicht.

Vielfältige Ursachen

Gestiegene Ansprüche, wirtschaftliche Interessen, ein weit gehender Planungsföderalismus und die Zunahme der Bevölkerung sind die Ursachen dafür. Wohnen und Mobilität brauchen mehr Platz als früher. Die durchschnittliche Wohnfläche hat zwischen 1980 und 2000 von 34 auf 44 m2 pro Person zugenommen. Die Anzahl der Haushalte wuchs doppelt so rasch wie die Bevölkerung. Die Verkehrsflächen nahmen in zwölf Jahren um zehn Prozent zu. Gestiegene Bedürfnisse sind das eine. Viele Bauzonen sind jedoch ausgeschieden worden, weil jemand Land verkaufen und jemand bauen wollte, das heisst um Geld anzulegen und zu verdienen. Raumplanung ist Sache der Kantone und viele von ihnen haben sie weitgehend an die Gemeinden delegiert. So macht jede Gemeinde ihre eigenen Nutzungspläne für Wohnen und Arbeiten, als wäre jenseits der Gemeindegrenzen Niemandsland. Die Steuerung durch kantonale Richtpläne ist meistens schwach und der Bund kann höchstens grobe Fehlentwicklungen zurechtbiegen. Weil weder die Verfassung noch das Gesetz sagen, was ‚haushälterische Nutzung des Bodens’ genau bedeutet, wird der Interessenausgleich meist darin gesucht, den Kuchen (sprich: die Bauzonen) zu vergrössern, statt ihn intelligenter zu verteilen. 

Was tun?

Man muss das bestehende Baugebiet intelligenter nutzen, statt immer neues auszuscheiden, konzentrierter bauen statt in der Fläche verteilt. Regionale Planungen müssen gegenüber kommunalen mehr Gewicht erhalten. Darin sind sich die Fachleute weitgehend einig. Unterschiedliche Vorstellungen bestehen jedoch darüber, mit welchen Instrumenten man die Bodennutzung haushälterischer gestaltet. Geht es nach dem Bundesrat, wird das Raumplanungsgesetz revidiert, das zum Raumentwicklungsgesetz mutieren soll. Ende 2008 hat er dazu die Vernehmlassung eröffnet.

Die Landschaftsinitiative

Die Naturschutz- und Umweltorganisationen haben einen anderen Weg vorgeschlagen. Sie sind der Meinung, die heutige Verfassungsgrundlage reiche für eine nachhaltige Raumentwicklung nicht aus. Sie haben deshalb unter der Federführung von Pro Natura die eidgenössische Volksinitiative Raum für Mensch und Natur (Landschaftsinitiative) lanciert und im August 2008 mit rund 110’000 beglaubigten Unterschriften eingereicht. Die Landschaftsinitiative sieht vor, dass Bund und Kantone künftig gemeinsam für die haushälterische Nutzung des Bodens verantwortlich sind. Für die Regelung – und die Begrenzung – des Bauens ausserhalb des Baugebietes soll der Bund verantwortlich bleiben. Der Schutz des Kulturlandes und die Siedlungsentwicklung nach innen sollen in der Verfassung verankert werden. Das wichtigste Anliegen der Landschaftsinitiative ist die Forderung, dass die Gesamtfläche der Bauzonen in der Schweiz in den 20 Jahren nach ihrer Annahme durch das Volk nicht vergrössert werden darf.
Ein Baustopp also? Keineswegs. Von den rechtsgültig ausgeschiedenen Bauzonen waren 2007  zwischen 38’000 ha und 53’000 ha nicht überbaut2. Das sind zwischen 17 und 24 Prozent der Gesamtfläche an Bauzonen. Diese Fläche böte zusätzlichen Wohn- und Wirtschaftsraum für gut 2 Millionen Menschen. Hinzu kommen innere Reserven von etwa 15’000 Hektaren – der Hälfte des Kantons Schaffhausen – im bereits überbauten Gebiet. Diese könnten bis 2030 nutzbar gemacht werden durch An- und Ausbauten, Nutzung von Industrie- und Gewerbebrachen oder ehemaliger Militär- und Bahnanlagen. Die Hälfte des Bauzonenbedarfs der nächsten 20 Jahre kann also innerhalb der bereits bebauten Siedlungsfläche realisiert werden, ohne auch nur einen Quadratmeter Land ausserhalb des Siedlungsraums zu überbauen. Selbst wenn der Bauboom anhalten sollte, reichen die Reserven also weit über das Jahr 2030 hinaus. Zwar liegen diese oft am falschen Ort, nämlich auf dem Land statt in der Nähe der Agglomerationen. Und etwa drei Viertel der nicht überbauten Bauzonen sind fast oder gar nicht mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen. Das lässt sich aber mit einem geeigneten Transfermechanismus lösen, wie er beim Wald seit über hundert Jahren funktioniert: Wer Wald rodet, muss die gleiche Fläche wieder aufforsten. Künftig müsste, wer Bauland neu einzont, andernorts dieselbe Fläche auszonen.

Das Raumentwicklungsgesetz

Auch der Vorschlag zum Raumentwicklungsgesetz enthält Instrumente gegen die Zersiedelung. Die Siedlungsverdichtung soll mit Agglomerationsprogrammen und marktwirtschaftlichen Instrumenten gefördert, überdimensionierte Bauzonen überprüft und wenn nötig angepasst werden. Der Baubedarf soll nicht mehr bloss kommunal, sondern regional ausgewiesen und die Baulandhortung eingeschränkt werden. Der Entwurf stärkt die Planungsinstrumente des Bundes. Für kantonale Richtpläne soll er künftig erweiterte Anforderungen und Mindestinhalte vorschreiben können. Das Raumkonzept Schweiz soll eine gesetzliche Grundlage erhalten.   
Die Initiantinnen und Initianten der Landschaftsinitiative begrüssen die Stossrichtung dieser Neuerungen. Ihnen ist jede Massnahme willkommen, mit der die Zersiedelung gebremst wird. Verschiedene Vorschläge gehen ihnen allerdings zu wenig weit. Und einzelne Teile der Revisionsvorlage bergen trotz Leitplanken die Gefahr, die Zersiedelung zu fördern statt zu bremsen. Der Vorschlag etwa, den Kantonen mehr Handlungsspielraum bei der Gestaltung ausserhalb der Bauzonen zu geben. In so genannten „Kulturlandzonen“ für Landwirtschaft, Naturschutz, Gewässer, Wald, Freizeit und Erholung, sollen sie künftig die Grundsätze von Gesetz und Verordnung regional präzisieren können.

Initiative und/oder Gesetz?

Der Bundesrat hat Stellung bezogen. Er hat die Landschaftsinitiative abgelehnt und das revidierte Gesetz zum indirekten Gegenvorschlag erklärt. Diese Haltung erscheint den Initiantinnen und Initianten mutlos und inkonsequent angesichts der Analysen aus Forschung und Verwaltung. Werden all die Bemühungen im Rahmen des heutigen Verfassungsartikels, d.h. ohne Stopp des Bauzonenwachstums und ohne zusätzliche Kompetenzen für den Bund, ausreichen, um die drastische Zersiedelung zu bremsen? Nach heutiger Einschätzung lautet die Antwort nein.
Will das Parlament Ernst  machen mit der haushälterischen Nutzung der begrenzten Ressourcen Boden, Lebensraum und Landschaft, dann muss es gleichzeitig ein griffiges Raumentwicklungsgesetz verabschieden und die Landschaftsinitiative zur Annahme empfehlen. Nur so besteht Gewähr, dass auch die kommende Generation unser Land als Heimat empfindet.
Quellen: 1Bildermappe von Jörg Müller, Sauerländer, 1973, Neuausgabe; 2Bundesamt für Raumentwicklung ARE, 2008: Bauzonenstatistik Schweiz 2007, Bern; 3Fahrländer Partner AG, 2008: Bauzonen Schweiz. Wie viele Bauzonen braucht die Schweiz? Expertenbericht im Auftrag des ARE; 4Jaeger, J., Schwick, C., Bertiller, R., Kienast, F., 2008: Landschaftszersiedelung Schweiz – Quantitative Analyse 1935 bis 2002 und Folgerungen für die Raumplanung. Wissenschaftlicher Abschlussbericht. Schweizerischer Nationalfonds, Nationales Forschungsprogramm NFP 54 „Nachhaltige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklung“. Zürich, 344 S.
Otto Sieber, Jahrgang 1949, hat Biologie und Psychologie studiert. Nach seiner Dissertation war er als Verhaltensforscher bis 1985 in der Lehre und Forschung an der Universität Bern tätig. Danach war er stellvertretender Leiter der Umweltschutzkoordination des Kantons Bern. Seit 1993 ist er Pro Natura Zentralsekretär. Er ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Söhnen und seit kurzem Grossvater.
Der Beitrag erschien in Natur und Mensch 1/2009, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Autor

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