Wie Menschen im Jahr 2057 unterwegs sein werden
Wie kann man Menschen dazu bringen, etwas zu beschreiben, was es noch gar nicht gibt? Das ist die Hauptfrage jeder Marktforschungsstudie, die zukünftige Kundenbedürfnisse erfassen möchte. Vor allem um die Mobilität der Zukunft ging es im Forschungsprojekt "Zukünftige Mobilitätsbedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung". Die Studie wurde finanziert vom SBB Forschungsfonds. Der Auftrag lautete, die Kundenbedürfnisse der Zukunft zu identifizieren und herauszufinden, welche Folgen neue Arbeits- und Lebensformen für die Mobilität haben könnten.
Vier Mobilitätsszenarien
Dazu liess das Forschungsteam der Hochschule Luzern Menschen unter Zeitdruck 221 Geschichten schreiben, wie sie sich Mobilität in Arbeit und Freizeit im Jahr 2057 vorstellen. Die 84 Teilnehmenden kamen aus verschiedenen Alters- und Berufsgruppen und entsprechen den Kundengruppen. Aus dem Datenmaterial ergeben sich vier Zukunftsszenarien, in denen Mobilität unter unterschiedlichen Vorzeichen stattfindet:
Im Szenario "Mobil leben und arbeiten" findet das Leben ortsunabhängig statt: in mobilen Boxen, die transportiert werden oder fliegen. Im Szenario "Freie Auftragsarbeit und seltene physische Treffen" arbeiten die Menschen selbstorganisiert von dem Ort aus, an dem sie sein möchten. Physische Treffen im Rahmen der Arbeit und damit auch Mobilität sind selten, häufiger finden Treffen in der Freizeit statt. Im Szenario "Zentrale Aufgabenzuteilung und Überwachung" sind Bewegungen ausserhalb der eigenen Wohnung fast zur Ausnahme geworden; sie geschehen nur, wenn der Arbeitgeber sie anordnet. Im Szenario "Emanzipation von digitalen Helfern" findet viel Mobilität statt, die aber sehr lokal bleibt – zu Fuss oder mit dem Fahrrad.
Plausibilität geprüft
Wie wahrscheinlich sind die Mobilitätsszenarien? Experten der SBB, der Hochschule Luzern, der Universität St. Gallen (HSG) und aus Unternehmen im Transportwesen bewerteten diese in einem Workshop und kamen zum Schluss, dass alle vier Szenarien mit Blick auf die aktuell unterschiedlichen Trends möglich und plausibel sind. "Wir gehen davon aus, dass die Szenarien gleichzeitig – wenn auch in abgeschwächter Form – existieren und von verschiedenen Teilen der Bevölkerung gelebt werden", sagt Studienleiterin Patricia Wolf von der Hochschule Luzern. Mobilitätsanbieter seien daher gut beraten, sich gleichzeitig mit den verschiedenen Szenarien und damit den teilweise gegensätzlichen Mobilitätsbedürfnissen ihrer künftigen Kundinnen und Kunden auseinanderzusetzen und sich darauf vorzubereiten.
Empfehlungen für Mobilitätsanbieter
Generell legen die Vielfalt der Anforderung und das in nahezu allen Geschichten deutlich gewordene Bedürfnis nach nahtloser Mobilität vom Start- zum Zielort nahe, dass Mobilität in Zukunft ein integriertes Angebot sein wird, bei dem die Kunden nicht mehr zwischen einzelnen Anbietern unterscheiden. Die strategischen Fragen für die Mobilitätsanbieter werden sein, wie ein solches System gestaltet und aufgesetzt wird und wer einzelne Mobilitätsleistungen in ein Gesamtsystem integrieren und koordinieren kann.
Methode der Flash Fiction Stories
In der Studie wurde die Methode der "Flash Fiction Stories" angewendet. Dies sind sehr kurze Geschichten mit 150 bis 300 Wörtern. Der kreative Prozess des Schreibens kann hilfreich sein, um das implizite Wissen über die Zukunft zu erfassen. Anders als mit konventionelleren Methoden der Marktforschung wird hier implizites Wissen explizit gemacht und nicht auf quantitativen Erhebungen aufgebaut, welche nur die Zustimmung zu oder die Ablehnung von bereits bekannten Vermutungen zur Zukunft abfragen können.
Der Bericht "Zukünftige mobilitätsbezogene Kundenbedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung" sowie Beispiele zu Geschichten stehen der Website der Hochschule Luzern zum Download bereit.