Es wird immer schlimmer: In den letzten Jahren waren nach einer Zählung der Uno eine Milliarde Menschen "permanent schwer unterernährt". Knapp 200 Millionen mehr als Mitte der 1990er Jahre. Das ist die direkte Folge der Finanzkrise: Die Spekulanten fanden nach den Immobilien die Nahrungsmittel als neues Feld ihrer Aktivitäten. Die Preise für Mais und Reis stiegen um das Dreifache. Das löste Revolutionen aus wie in Tunesien. Aber es kam auch der Hunger für Millionen.
Entscheidung über Leben und Tod
Jährlich sterben mehrere zehn Millionen Menschen an Unterernährung. Nach unerträglichen Schmerzen, körperlichem Verfall, sozialer Isolation, geistiger Verkrüppelung. Dabei müsste niemand verhungern: Die Welt könnte beim Stand ihrer Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden ernähren. Wenn nur die Verteilung anders organisiert wäre. Wie Jean Ziegler immer wiederholt: Jeder Mensch, der verhungert, ist Opfer eines Mordes. Nun ist Zieglers Buch "Wir lassen sie verhungern" auf Deutsch erschienen. Es berichtet von den Folgen dieser Weltordnung, von der "Massenvernichtung in der Dritten Welt". Als Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung besuchte er die Schauplätze der Hungerkatastrophen. Und erlebte Traumatisches. Zum Beispiel in einem Dorf im zentralafrikanischen Niger.
Jeden Morgen suchten Ordensschwestern vor dem Tor ihres Spitals unter den wartenden Müttern jene Kinder aus, die eine Überlebenschance hatten. Die vom Hunger noch nicht so geschwächt waren, dass der Einsatz der teuren Infusionsbeutel erfolgversprechend war. Die Entscheidung über Leben oder Tod. Wir schreiben 2012, und die Rampen von Auschwitz stehen in Niger, in Darfur, in Äthiopien, im Süden Somalias und und und.
Die Pflicht der Erinnerung
Vergleicht Jean Ziegler hier Unvergleichliches? Er bedenkt sehr wohl die Gefahr einer Banalisierung der Nazi-Verbrechen, wenn er von der "neuen Selektion" in den Hungerregionen des Südens spricht. Doch er sagt: "Wir haben auch die Pflicht der Erinnerung: Alles, selbst das ungeheuerlichste Verbrechen, kann sich jederzeit wiederholen." Gewiss, niemand plant heutzutage bewusst die Vernichtung von Millionen. Aber bewusst war auch der Entscheid der Regierungen der Eurozone, nach der Milliardenrettung der Banken ihre Budgets an anderer Stelle zu entlasten: durch eine Streichung der Gelder für die Nahrungsmittelhilfe der Uno.
Eine "Hierarchie der Not"
Dem Welternährungsprogramm der Uno (WFP), das akute Hungerkatastrophen lindern soll, standen 2009 statt der veranschlagten 6 noch 3,2 Milliarden Dollar zur Verfügung. 2011 wurden bis Anfang des Jahres statt 7 Milliarden gerade 2,7 Milliarden Dollar versprochen. Das WFP, berichtet Ziegler, musste eine "Hierarchie der Not" aufstellen. Und danach etwa die Verbilligung von Infusionsbeuteln in Niger streichen oder auch die Beiträge für Schulspeisungen in Bangladesh und Äthiopien. Als es im äthiopischen Sidamo noch Schulspeisungen gab, erlebte Ziegler, wie der Lehrer den Raum abschloss, nachdem das Essen aufgetragen war. So zwang er die Kinder, die Mahlzeit selber zu essen und sie nicht für ihre hungernden Familien hinauszuschmuggeln. Das ist nur eine von vielen herzzerreissenden Geschichten, die es immer wieder schwer machen, überhaupt weiter zu lesen. Und diesmal hilft Ziegler den Lesenden nur selten mit seinen bekannten Kraftmeiereien, um ein bisschen Abstand vom Erzählten zu gewinnen.
Wer seine work-Kolumnen kennt, merkt bald, dass er diesmal nicht "mit der rhetorischen Stalinorgel" ("Süddeutsche Zeitung") in die Schlacht gezogen ist. Umso mehr knallen uns dafür die lapidaren Daten des realen Wahnsinns um die Ohren. "Wir lassen sie verhungern": Das ist die bedrückendste Lektüre, die Ziegler bisher veröffentlicht hat. Trotzdem endet er auch diesmal mit Hoffnung. "Die stärksten Mauern fallen durch ihre Risse", zitiert er Che Guevara. Und fordert weltweit den Aufstand des Gewissens. Denn "es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie, keine Entschuldigung für freie Bürger, nichts zu tun".
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt. Bertelsmann-Verlag, München 2012, 319 Seiten, CHF. 28.40.–, EUR 19.99. ISBN 978-570-10126-1
Mehr wissen: www.allianz-hunger.ch; Report Die Hungermacher: http://goo.gl/pVQT8.
Dieser Beitrag erschien in work, der Zeitung der Gewerkschaft UNIA , vom 21. September 2012. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.