Joseph Rattaggi ist Senior Experte mit Herzblut. Er gehört zu den über 100 Freiwilligen Senioren, die Swisscontact, die Schweizer Stiftung für technische Entwicklungszusammenarbeit, allein im vergangenen Jahr als pensionierte Fachkräfte in Entwicklungsländer und Osteuropa entsandte. Dort sind sie derzeit gefragt wie nie. Sie unterstützen kleine und mittlere Unternehmen, Schulen und Nichtregierungsorganisationen darin, ihre Produkte und Dienstleistungen zu verbessern oder neue Managementstrukturen aufzubauen. In Äthiopien hat der Weinfelder zuletzt eine Metzgerei aufgebaut.
Wenn Joseph Rattaggi über seine Zeit als Senior Experte in Addis Abeba spricht, wird seine Stimme lebhaft, er redet schneller, zieht Fotos hervor. "Ich war dort nicht an einem Touristenort, sondern mitten im Slum in der Hauptstadt", sagt Rattaggi. "Ich habe selbst meiner Frau am Telefon nicht erklären können, wie ich dort gelebt habe." Gewohnt hat der 69-Jährige in einer Behausung neben der Metzgerei, in einfachsten Verhältnissen, weil er keine Extrabehandlung und direkt bei "den Menschen" sein wollte.

Eine lehrreiche Zeit

Von den Äthiopiern habe er während seiner Zeit als Senior Experte viel gelernt, zum Beispiel geduldiger zu sein. "Selbst wenn man sehr viele Ideen mitbringt und hoch motiviert ist, darf man die Leute nicht vor den Kopf stossen, indem man zu viel auf einmal verändern will." Nicht nur kulturelles Verständnis, sondern auch Einfühlungsvermögen ist gefragt, erklärt der gelernte Metzgermeister. Er musste sich vor allem bei seinem ersten Einsatz als Senior Experte oft mit Verbesserungsvorschlägen zurückhalten.
Senior Experten bieten kleinen und mittleren Betrieben in Entwicklungsländern, die sich keine professionelle Beratung leisten können, eine kostengünstige Alternative an. Kost und Logis übernehmen die Unternehmen vor Ort. Swisscontact bezahlt die Reisekosten und ein bescheidenes pauschales Taschengeld.
Rattagis Einsatz in Äthiopien dauerte vier Monate. Als er im September 2010 in Addis Abeba ankam, stand Samuel, der Besitzer der Metzgerei, in einem leeren Haus. Als er ging, konnte er sechs Mitarbeiter beschäftigen. "Nach einer ersten Kennenlernphase sank das Misstrauen der neuen Mitarbeiter mir gegenüber", sagt der Metzgermeister. Und verständigt hat er sich vor allem mit Zeichensprache, da das Englisch der Angestellten nicht ausreichend war.

Ein Geben und Nehmen

Ein grosses Problem, mit dem Joseph Rattaggi in Äthiopien zu kämpfen hatte, war der tägliche Stromausfall. Das Fleisch im Kühlschrank und im Gefrierfach wurde bei den mehrstündigen Ausfällen schlecht und konnte nicht mehr verarbeitet werden. Rattaggi musste die Fleischwaren daher unmittelbar nach der Verarbeitung vakuumieren. Zusammen mit den Angestellten stellte der Senior Experte eine neue Sortimentsauswahl zusammen. Neben Vorder- und Hinterschinken bot der Betrieb Rinderwurst, Hackbraten und Cevapcici an. Zudem zeigte Rattaggi, wie afrikanisches Trockenfleisch und Räucherschinken hergestellt werden. Mit dem örtlichen Schlachter versuchte er Lösungen zu finden, damit dieser die Tiere nach dem Schlachten sorgsamer zerlegt: "Die guten Stücke vom Rind und Schwein hat er zum Teil zerrissen und verschnitten, was eine grosse Verschwendung darstellte." Ein weiteres Problem war, dass der Schlachter das Fleisch zum Teil schmutzig anlieferte, so dass es nicht mehr oder nur schwer verarbeitet werden konnte. Ausserdem gab es Probleme mit dem Abwassersystem im Betrieb. Die Abwasserleitung führte unter dem Gebäude in den Boden und endete schliesslich dort. "Der Geruch war unerträglich", so Rattaggi. Er ist überzeugt, dass man als Experte nicht nur Wissen weiter vermitteln sollte, sondern auch etwas verlangen kann – zum Beispiel, dass vor Ort an Umweltschutz gedacht wird. "Ein Geben und Nehmen", wie der Metzgermeister meint.
Nach drei Monaten stellte Rattaggi den Mitarbeitern erstmals grössere Aufgaben und testete sie in ihrer Ausführung. Er wollte sehen, wie die Angestellten die Arbeitsvorgänge beim Zerlegen der Schweine verinnerlicht hatten und wie sie das Ausbeinen der Tiere beherrschten. Ihnen mangelte es schlussendlich nicht an den Fähigkeiten, die Mitarbeiter missachteten aber oft die Hygienevorschriften. "Anfangs musste ich ihnen erklären, dass sie Arbeitskleidung tragen und sich nach dem Gang auf die Toilette die Hände waschen müssen", so Rattaggi. Doch nach und nach konnte der Senior Experte ähnliche Hygienevorschriften wie in grossen Betrieben durchsetzen.
Stolz macht den pensionierten Metzgermeister nicht nur, dass während seiner Zeit als Senior Experte alle Mitarbeiter unverletzt blieben, obwohl sie mit seinem Werkzeug aus der Schweiz arbeiteten. Sondern auch, dass der Betrieb in Addis Abeba ein Fest in der deutschen Botschaft in Addis Abeba mit Fleischspezialitäten beliefern konnte. "Das war eine einmalige Werbung für uns", freut sich der Weinfelder. Danach folgten zahlreiche weitere Aufträge im Bereich Catering. Firmen orderten für besondere Anlässe Fleischkäse, Schweinsbratwürste und Spezialitäten wie Rollbraten, mit Champignons gefüllten Schweinehals, "Buureschüblig" und sogar Schnitzel.
Noch heute sendet der Weinfelder Gewürze und Rezepte nach Addis Abeba. Er würde gerne einen Folgeeinsatz leisten, um zu sehen, wie "seine" Metzgerei läuft und wie die Angestellten seine Anweisungen umgesetzt haben. "Die Leute sind mir wirklich ans Herz gewachsen", sagt Rattaggi.


Pensionierte Fachleute des Senior Expert Corps von Swisscontact stehen Klein- und Mittelbetrieben in Asien, Lateinamerika, Afrika und Osteuropa als ProblemlöserInnen zur Verfügung. Die gut qualifizierten und hochmotivierten Senior Experts leisten schnelle praxisorientierte Unterstützung bei der Lösung technischer und betrieblicher Probleme vor Ort – auf ehrenamtlicher Basis. Ihre Einsätze dauern maximal drei Monate. Swisscontact sucht weitere Metzger und Metzgermeister, die ehrenamtliche Einsätze leisten wollen. Sind Sie berufstätige oder pensionierte Fachkraft aus der Fleischwirtschaft und wollen einen vier- bis sechswöchigen Einsatz leisten? Gerne informiert Swisscontact Sie über ihr Programm und mögliche Einsätze.
Für die 1959 gegründete Entwicklungsorganisation Swisscontact arbeiten heute rund 700 Personen weltweit. Die Schweizer Stiftung für technische Zusammenarbeit realisierte 2012 über 100 Projekte in Entwicklungsländern und Osteuropa. Die Einsätze von rund 600 Senior-Experten ergänzen die Projekte von Swisscontact. Swisscontact ist überzeugt, dass privatwirtschaftliches Engagement Aufschwung bringt und die Armut nachhaltig mindert.