Wie würde die Welt reagieren, wenn eine staatliche Regierung anderthalb Millionen israelische Juden und Jüdinnen auf einem winzigen Flecken Land einpferchen und so lange belagern würde, bis sie an den Rand ihrer Existenz getrieben würden? Ein lauter Aufschrei ginge um die Welt, gefolgt von einer politischen Intervention durch den Westen. Und dies zu Recht.
Handelt es sich um PalästinenserInnen, so legt der Westen offenbar einen anderen Massstab an: Seit einem Monat hat Israel sämtliche Grenzübergänge zum Gasastreifen geschlossen – eine Vergeltungsmassnahme für den Raketenbeschuss durch islamistische Aktivisten, wie Israel begründet. Die Menschen leiden an Hunger; es fehlt ihnen an Strom und Medikamenten. Die Lage in Gasa sei "so schlimm wie noch nie" warnt die Generalkommissarin des Uno-Palästinahilfswerks UNRWA, Karen Abu Zayd. Vor allem Kinder würden an Unterernährung leiden. Derweil hat Israel am Montag ein libysches Schiff, das mit 3’000 Tonnen Hilfsgütern beladen war, an der Küste Gasas abgefangen und zur Umkehr gezwungen. Selbst die Hilfslieferungen der Uno können – mit nur wenigen Ausnahmen – die Grenze nicht mehr passieren.
Und was macht der Westen? Er schaut tatenlos zu. Dass diese kollektive Bestrafung einer ganzen Bevölkerung gegen das humanitäre Völkerrecht verstösst, nimmt man kaltschnäuzig in Kauf. Schliesslich waren es die USA und die Europäische Union, die als Mitglieder des sogenannten Nahostquartetts, nach der Wahl der islamistischen Hamas Anfang 2006, zum internationalen Boykott der Regierung aufriefen. Israel setzt diese Politik nur am konsequentesten um – und Europa trägt dieses Vorgehen stillschweigend mit. Die Schweiz begnügt sich ihrerseits mit der diplomatischen Ermahnung, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten. Zwar sind von Schweizer DiplomatInnen bereits seit längerem sehr kritische Töne gegenüber der israelischen Zermürbungspolitik zu vernehmen. Doch man weiss auch dort, dass die nationale und internationale Politik dem eigenen Spielraum enge Grenzen setzt.
Europa beruft sich in seiner Nahostpolitik auf seine "historische Verantwortung" gegenüber Israel. Die ausdrückliche Beachtung von moralischen Prinzipien innerhalb der internationalen Politik ist zwar erfreulich. Doch der Massstab, an dem sich Europa zu orientieren scheint, ist schwer nachvollziehbar. Einerseits fühlen sich die EuropäerInnen offenbar nur jenen Minderheiten moralisch verpflichtet, die in der Vergangenheit Opfer ihrer Verbrechen wurden. Braucht es diesen "Zwischenschritt" einer Gräueltat denn wirklich? Andererseits ist Europa offenbar bereit, den historischen Opfern seiner Verbrechen eine bedingungslose Loyalität zu gewähren – auch für Taten, unter denen neue Minderheiten zu leiden haben. Die PalästinenserInnen haben damit doppelt Pech.
Hinter einer solch verstandenen "historischen Verantwortung" steckt entweder politischer Zynismus oder eine hochgradig absurde Moral. Etwas mehr Abstraktionsvermögen könnte man durchaus erwarten: Die "historische Verantwortung" hat gegenüber allen Gemeinschaften zu gelten, an denen Unrecht begangen wird. Von einer solchen Politik sind nicht nur die USA, sondern auch die EuropäerInnen leider noch weit entfernt.
Der Beitrag erschien in der Wochenzeitung WOZ Nr. 49, 4. Dezember 2008; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors. In den letzten Tagen hat Israel im Sinne eine Goodwill-Geste zum muslimischen Fest Eid al-Adha zwar die Blockade ein wenig gelockert, die humanitäre Krise bleibt aber gemäss UN-Experten akut solange die Grundversorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln, Energie, medizinischen, sanitären sowie weiteren Basis-Infrastrukturleistungen nicht dauerhaft gewährleistet wird.