Freitag, 16. Februar. Hinter uns die Mauern der Altstadt von Jerusalem, vor uns ein Meer geduckter Köpfe oder runder Hinterteile, je nachdem, wo man steht. Um sie herum in lässiger Haltung israelische Polizisten und Armeeangehörige, alle die eine Hand an der Maschinenpistole. Auch ein paar Frauen sind darunter, sie sind alle jung, sehr jung. Die Menge der Moslems am Boden betet, im Hintergrund scharren die Pferde der berittenen Polizei. In den umliegenden Strassen stehen die Fahrzeuge von Polizei und Armee.
Am Freitag dürfen auf dem Tempelberg nur Männer, die mehr als fünfzig Jahre alt sind, beten, die anderen müssen sich einen passenden Ort ausserhalb der Altstadt suchen. Dieser da lag unmittelbar neben dem Damaskus-Tor, auf dem Platz, wo sonst Händler ihre Ware feil bieten, Obst und Gemüse, Trockenfrüchte, Spiesse mit gebratenenem Fleisch, gefüllte, köstlich duftende Teigtaschen, Kleider, Lederwaren, Hefte, Schreibpapier, billiger Schmuck.
Auch wir haben zugeschaut, im Kreis fotografierender Touristen, bemüht, nicht aufzufallen. Mir war unbehaglich. Welch ein Bild: Erwachsene Männer liegen betend auf dem Boden, den aufmerksamen Blicken der jungen, bewaffneten Männer und Frauen in Uniform ausgesetzt. Diese sind nicht unfreundlich, auch sie scheinen bemüht, keine Spannung aufkommen zu lassen. Wie fühlen sie sich? Wie fühlen sich die Männer, die jetzt den Staub von den Kleidern schütteln? Es geschieht nichts, die Männer beenden ihr Gebet, sie stehen auf, zerstreuen sich, die Belagerung nimmt ein Ende.
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Wir, mein Kollege Martin Heule und ich, sind nach Palästina gefahren, um mit der palästinensischen Autorin Sumaya Farhat-Naser ein paar Dinge zu klären, die sich im Zusammenhang mit der Publikation ihres dritten Buches ergeben haben, und um einige Interviews zu machen, die ebenfalls Teil des Buches werden sollen. Jeden Tag fuhren wir von Ostjerusalem über den Checkpoint von Kalandja nach Bir-Zeit, wo Sumaya mit ihrem Mann Munir wohnt. Vom Busbahnhof in Ostjerusalem aus gerät der Minibus bald auf löcherige Nebenstrassen, plötzlich ragt die Mauer neben uns auf, der Bus fährt in schnellem Tempo an ihr entlang, dann tauchen die Installationen des Checkpoints auf. Aus der Ferne gleicht er einer grossen Tankstelle. Doch dann erkennt man die Wachtürme, ein Stück Mauer, das im Nichts endet, die Schlangen wartender Autos, die gedeckten Hallen, wo die Fussgänger durch die Kontrollen geschleust werden. Das Ganze erinnert mich an die Übergänge von West- nach Ostberlin, damals, als die DDR noch existierte.
Auch hier sind wie am Freitag vor dem Damaskustor durchwegs junge Israelis eingesetzt, unter ihnen viele dunkelhäutige, fast noch Jungen und Mädchen. Wir haben Glück, ausser ein paar barschen Anweisungen dürfen wir anstandslos passieren. Nicht alle haben Glück. Am Checkpoint von Bethlehem, wo gerade ein grünes Licht das Passieren einer Schranke befohlen hatte, mussten wir zusehen, wie eine verschleierte Frau mit vier kleinen Kindern peinlichst untersucht wurde, wobei ihr nackter Rücken und ihr Bauch zum Vorschein kamen. Eiligst versuchte sie, dem Kleiderwirrwarr Herr zu werden, der Säugling schrie, die anderen Kinder standen einfach da, Hilflosigkeit im Gesicht, ungerührt sahen drei Uniformierte zu.
Jenseits des Checkpoints von Kalandja eine Art Niemandsland, die Strasse gesäumt von älteren, zum Teil zerfallenen Häusern, auf dem freien Gelände fallen die pompösen Neubauten auf, mehrstöckige Wohnblöcke oder Villen, alle unbewohnt, gebaut von Palästinensern und Palästinenserinnen, die im Ausland wohnen. Investitionen? Proteste? Der Versuch, das Terrain zu halten? Sie dürfen ja nicht zurückkehren und darin wohnen. Irgendwann fängt Ramallah an, Ram Allah, Ort, Hügel, Stätte Gottes, eine lebendige, farbige, laute Stadt voller Verkehr; kleine Läden säumen die Strassen, Verkäufer karren ihre Ware durch die Strassen, Autos hupen. Das moderne, leere Parlamentsgebäude wirkt gespenstisch.
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Jerusalem, Bethlehem, Bethanien, Nablus, Jericho… mit diesen Namen sind wir gross geworden, wir haben uns dazu selber Bilder im Kopf geschaffen. Jetzt schiebt sich die Realität darüber. Wo bin ich eigentlich? In Israel? In Palästina? Im Heiligen Land? Was Israel und Palästina betrifft, ist die Karte wenig hilfreich. In vielen Farben sind die verschiedenen Zonen eingezeichnet, rund um Jerusalem ein Puzzle, das zu entschlüsseln der Besucherin aus der Schweiz, die zum erstenmal hier ist, nicht gelingt. Aber nach wenigen Tagen habe ich begriffen, dass ich in einem besetzten Land bin, wo sichtbare und unsichtbare Grenzen den Alltag bestimmen, wo die Besetzten sich täglich neu arrangieren mit einer unberechenbaren Besatzungsmacht, wo man auf Zufälle hofft, den Vorschriften ein Schnippchen schlägt, die Hoffnung nicht aufgibt und darauf zählt, dass dieser eine Tag, der heutige, zu einem guten Ende kommen möge.
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Sumayas Mann Munir gehört zu einer alteingesessenen Familie in Bir-Zeit. Er kennt Land und Leute. Munir nimmt uns mit auf eine Fahrt in die umliegende Landschaft. Sie erinnert mich ein wenig an gewisse Regionen im Inneren Spaniens, auf der anderen Seite des Mittelmeers, aber nur in der Grundstruktur. Hier sind die Hügel voller schwerer Steine, es gibt nur hie und da ein paar zerzauste Föhren, nur hie und da ein dem kargen Boden abgerungenes Feld, einen kleinen Olivenbaumhain, ein paar Mandelbäume. Sie stehen in voller Blüte und versöhnen mit der Strenge dieser grossartigen Natur. Munir beschäftigt sich mit dem kulturellen Erbe Palästinas. Er führt uns an uralte Kultplätze auf den steinigen Höhen, in den alten arabischen Dörfern ins Innere von Häusern, die zeigen, wie die Menschen früher in einem Raum sinnvoll gelebt haben. Bei uns würde man sie sorgfältig renovieren und stolz als kulturelles Erbe verwalten, in Palästina zerfallen sie.
Uns fällt auf, dass Munir immer wieder die Menschen anspricht, sie etwas fragt, mit Kindern lacht, alte Männer in ein Gespräch verwickelt. Er tut es, erklärt er auf unsere Frage, damit die Leute nicht denken, wir anderen seien Israelis oder amerikanische Juden auf der Suche nach Land. Überall stossen wir hier auf israelische Siedlungen. Sie sind von Zäunen umgeben, die Zufahrtswege mit Barrieren abgeschlossen, mögliche Erweiterungen abgesteckt. Es gibt hier zwei Strassennetze, die alten, schmalen, gewundenen Strassen, über die wir fahren, fahren müssen, die neuen, schnellen der Israelis. Manchmal führt unsere Strasse unter der neuen Schnellstrasse hindurch. Munir weiss, wo er fahren darf, wo nicht. Es gibt immer wieder fliegende Checkpoints.
Am nächsten Tag begleiten wir Sumaya nach Bethlehem, wo sie zweimal in der Woche in der vom Berliner Missionswerk unterstützten Schule „Thalita Kumi“ unterrichtet. Die Schule nimmt christliche und muslimische Kinder auf. Sumaya übt mit ihnen die gewaltfreie Kommunikation und bespricht mit ihnen Wege, wie sie in ihrer schwierigen Umgebung zurecht kommen können. Der direkte Weg von Bir-Zeit nach Bethlehem führt durch Jerusalem. Da Sumaya nicht nach Jerusalem darf, muss sie einen weiten Umweg nehmen. Wir sehen wieder die Schnellstrassen der Israelis, wir sehen die Mauer, die auf und ab quer durch die Landschaft gebaut wurde; da wo die Touristenbusse vorbei kommen, ist sie durch lockere Gitterzäune ersetzt. Die Mauer führt mitten durch Abu Dis, mitten durch Bethlehem.
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Während unseres Aufenthaltes lernen wir Sumaya und Munirs Sohn Anis und ihre Tochter Ghada kennen. Anis, 31 Jahre alt, ist Arzt, in Österreich ausgebildet, vor drei Jahren kam er zurück. Eine Spezialisierung in Jerusalem und eine feste Anstellung dort wurden ihm verweigert, weil er als 14-jähriger einmal von den Israelis angeschossen und danach verhaftet worden war und sich weigerte, eine Schuld zu bekennen und Abbitte zu tun. Deshalb kam die ganze Familie auf eine schwarze Liste und das ist auch der Grund, weshalb Sumaya keine Genehmigung mehr für die Einreise nach Jerusalem bekommt. Anis hat in Bir Zeit eine Praxis eröffnet, gleichzeitig arbeitet er bei der UNRWA (United Nations Refugee Work Agency) in einem Flüchtlingslager im Raum Ramallah.

Eine Wendung zum Guten hat es im Leben von Ghada gegeben. Nach drei Jahren Wartezeit konnten sie und ihr Verlobter endlich heiraten. Der junge Mann wurde ohne Anklage in einem Gefängnis in der Wüste des Negev festgehalten, wo er gefoltert und schliesslich ohne Urteil freigelassen wurde.
Die jungen Leute wohnen in einem schicken Neubauviertel von Bir-Zeit, das den Angestellten der Universität vorbehalten ist. Ghada arbeitet dort als Forschungsangestellte. Die Siedlung besteht aus modernen Terrassenhäusern, vor jedem Haus steht ein Auto, die Strassen sind sauber, die kleinen Gärten gepflegt. Ghadas Mann hat eine Stelle als Buchhalter gefunden, sie haben Glück gehabt.
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Es bleibt ein fragiles Glück, ein relatives Glück und ein stets gefährdetes Glück.
Ghada und ihr Mann können sich nicht frei bewegen, sie fühlen sich eingeschlossen in der von der Besatzungsmacht zugewiesenen Region, Reisen ins Ausland – heute ein „must“ für eine Akademikerin – sind mit vielen Schwierigkeiten und langen Vorbereitungen verbunden, wenn sie denn überhaupt gelingen. Verwandte besuchen ist oft unmöglich. Und wer garantiert die Sicherheit von Ghadas Mann? Es ist ein unfreies Leben, von der Willkür der Besatzer bestimmt. Ghada teilt sich mit ihrer Mutter in die Friedensarbeit in Form von Gesprächen mit jungen und älteren Frauen. Früher gab es gute Kontakte und gemeinsame Aktivitäten mit israelischen Friedensfrauen. Das gemeinsame Friedensnetz ist zerrissen, die Dialoge über alle Grenzen hinweg sind gestoppt worden. Ohne Internet wäre alles noch schlimmer.
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Demütigungen werden als Schande empfunden, sie wirken traumatisch, bleiben unvergessen, wirken in vielen Generationen weiter. Manche motten lange im Unterbewusstsein der Gedemütigten, manche machen sich Luft in Aggressionen, die katastrophale Folgen haben können, in Verfolgungen, Kriege, Genozide ausarten, wenn es Machthabern gelingt, die Gefühle der Massen zu missbrauchen. Die europäische Geschichte und die Kolonialgeschichte sind voller Beispiele.
In Israel/Palästina sind wir mitten drin im Räderwerk der täglichen Demütigungen der Schwächeren durch die Stärkeren, als Teil einer Strategie, die die Palästinenser/innen einschüchtern oder zum Weggehen bewegen und junge Israelis einführen soll in das Handwerk der alltäglichen Demütigung.
Wir haben sie nur als Zuschauer erlebt. Wie sie von den Palästinensern erlebt und erfahren werden, hat der arabische Politiker Asmi Bischara in seinem Buch „Checkpoint. Bericht aus einem zerteilten Land“ beschrieben. Bischara ist seit 1996 Mitglied der Knesset, „Checkpoint“ ist sein erstes literarisches Werk (vgl. S. 132 in diesem Heft).
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Im Februar war es in Jerusalem kalt, eine dicke Wolkenschicht lag über der Stadt, es regnete oft; nur am Morgen fegte der Wind den verhangenen Himmel frei und die Sonne liess die vergoldete Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg aufleuchten. Kein Wunder, die Stadt liegt auf bis zu mehr als 800 Metern über Meer, an allen Souvenirständen begegnet man Fotos des verschneiten Jerusalem. Früher pflegten die wohlhabenden Jerusalemer Familien der feuchten Kälte der Stadt mit einem Ausflug nach Jericho zu entrinnen, im warmen Jordantal. Viele besassen dort ein Haus oder eine Wohnung. Jericho liegt 250 Meter unter dem Meeresspiegel, unweit des Toten Meeres.
Mit dem Auto, und wenn der gewichtige Checkpoint keine Umstände macht, erreicht man Jericho in einer guten halben Stunde. Wir nahmen den Bus. Die Strasse stürzt dramatisch ab, die steinübersäten Hügel verwandeln sich in hartgebackene, gelbe Dünen, dazwischen Wadis und einzelne Siedlungen von Beduinen. Und plötzlich geben die Berge den Blick frei, vor uns liegt das Jordantal, inmitten ein grünes Band, das den Fluss verbirgt, dahinter erheben sich im Dunstschleier die Berge Jordaniens.
Jericho liegt im palästinensischen Gebiet. Dennoch wird der Eingang zur Stadt von einem israelischen Checkpoint kontrolliert. Jericho, einst Sitz von Sultanen und Kirchenfürsten, Sommerfrische der Reichen, Pilgerstation, heute Ausflugziel und Touristenattraktion, ist eine kleine, ruhige, tropisch anmutende Siedlung. Vom Berg der Versuchung aus, wo seit kurzem eine moderne Gondelbahn hinführt, lässt sich die uralte Geschichte dieses Kulturlandes erahnen, wo schon vor zehntausend Jahren Getreide angebaut wurde. Es leuchtet rot und orange und gelb in den Plantagen, dazwischen Dächer, die vielleicht einmal zu Palästen gehörten, in der Ferne blaut das Tote Meer.