Basel, 08.03.2013, akte/ Wer sich fragt, warum sich im Tourismus hartnäckig der Traum von Ferien hält, die keine Wünsche offen lassen, in intakter Natur, zu billigsten Preisen – dem bietet der neue Widerspruch zu "Care, Krise und Geschlecht" gute Erklärungsansätze.
Denn auch der Tourismus ist eine "Care-Ökonomie": Fürsorgende Beziehungen, wie die in fast allen ursprünglichen Gesellschaften natürliche Gastfreundschaft Reisenden gegenüber, werden professionalisiert und kommerzialisiert – womit der mittellosen Kundschaft der Zugang verwehrt wird und der zahlenden nunmehr keine Gastfreunde zur Seite stehen, sondern Dienstpersonal. Im Streben nach Effizienz und Profiten von Hoteliers und Reiseveranstaltern werden die Löhne für pflegende, sorgende und versorgende Tätigkeiten – Reisende begleiten, ihre Wäsche Waschen, sie verpflegen, bedienen usw. – über Leiharbeit, Kleinpensen und prekäre Anstellungsverhältnisse nach unten gedrückt. Wie in jeder "Care-Ökonomie" wird der Grossteil dieser Tätigkeiten von Frauen ausgeübt, die gerade auch in den oberen Chargen weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen in gleicher Position. Und, ebenfalls typisch für die "Care-Ökonomie": Trotz aller hochgeschraubten Standards bei Unterkünften und Betreuung bleibt die Sehnsucht nach dem "echten" Austausch, der spontan und bedingungslos aus reiner Freundlichkeit und ohne wirtschaftliche Hintergedanken geschieht.

Der vergessene Wert der "Care-Arbeit"

Die Diskussion um die sogenannte "Care-Ökonomie" wurde von Feministinnen lanciert. Während die US-amerikanische Professorin für Gender Studies, Kathie Weeks, bereits in den Achtzigerjahren davor warnte, die sogenannte soziale Reproduktion der Marktlogik zu unterwerfen, rechnete die Schweizer Ökonomin Mascha Madörin vor gut zehn Jahren aus, was die unbezahlte Arbeit von Frauen eigentlich Wert ist. Sie bezifferte die vielen Stunden, die Frauen für ihr fürsorgliches Engagement aufwenden und verglich diese mit den von Männern in Beruf und zu Hause geleitsteten Arbeitsstunden. Dies führte unter anderem zur seither wichtigen Forderung der besseren Verteilung der Lasten auf die Schultern beider Partner.
In fast allen Gesellschaften sind es die Frauen, die sich hauptsächlich der Kinder, der Kranken und der Alten annehmen, sie pflegen, versorgen, umsorgen, erziehen, mit ihnen Gespräche führen, aber auch einfach die Wäsche waschen, die Hemden bügeln und den Haushalt besorgen. Einige dieser unter "Care" zusammengefassten Tätigkeiten stehen heute noch unter staatlicher Obhut, wie das Gesundheitswesen, die Bildung und die pflegerische Betreuung alter, psychisch kranker oder behinderter Menschen. Andere werden von Müttern, Grossmüttern und Kindern in ihrer Freizeit geleistet, aus Liebe zum Familienmitglied, das in irgendeiner Weise der Fürsorge bedarf. Wo dies neben den beruflichen Verpflichtungen nicht zu leisten ist, springen Privatunternehmen oder Privatpersonen ein, oftmals Migrantinnen, die ihre eigenen Kinder zurücklassen, um eine fremde Person zu betreuen.

"Gender-Budgeting": Frauen sind von Sparrunden überproportional betroffen

Die über dreissig Beiträge zu sozialistischer Politik des Widerspruchs Nr. 62 "Care, Krise und Geschlecht" gehen der Frage nach, wie die "Care-Arbeit" heute immer stärker unter den Druck eines Kapitalismus kommt, der sich die bisherigen Domänen des Service Public als Wachstumsbereiche unter den Nagel reissen will, und was dies konkret für die Frauen in unterschiedlichen Situationen bedeutet. Sie zeigen auf, wie die Sparrunden und Steuersenkungen Frauen benachteiligen: Erstens, weil sie fast zwei Drittel des öffentlichen Dienstes ausmachen und daher überproportional von Kündigungen betroffen sind, zweitens, weil sie aufgrund von Schwangerschaft, höherer Lebenserwartung, geringerem Einkommen und Vermögen mehr auf Leistungen der öffentlichen Hand angewiesen sind und drittens, weil die vom Staat nicht mehr finanzierte "Care-Arbeit" mehrheitlich von den Frauen übernommen werden muss, die dadurch weniger Zeit für Erwerbsarbeit haben.

Viele Beiträge wurden im Rahmen der Tagung "Macht Arbeit Gender?" von WIDE Switzerland im Mai 2012 verfasst und für diese Ausgabe des Widerspruchs adaptiert. WIDE Switzerland wurde 2009 als nationale Plattform von Women in Development Europe von Genderspezialistinnen und Aktivistinnen gegründet. WIDE Switzerland organisiert Veranstaltungen und Weiterbildungsangebote zu "Care-Arbeit", Handel, Nachhaltigkeit und Entwicklungspolitik.
Es braucht, sagt die Widerspruch-Redaktion im Vorwort, eine überzeugende Ethik der Solidarität und des Füreinander, die sich der Ideologie des Wachsens, Profitierens und Konkurrierens entgegenstellt. Ansätze dazu sind in neuen Formen der Gemeinschaftlichkeit zu finden: etwa Urban Gardening, Tauschkreise, solidarisches Wirtschaften, im Tourismus auch gewisse Formen von Gemeindetourismus oder Couch Surfing. Dabei darf aber das Geschlechterverhältnis nicht aus den Augen verloren werden, warnen die Autorinnen: Auch auf Gemeinschaftsgütern lastet oft die Geschlechterhierarchie.
Der Widerspruch zu "Care, Krise und Geschlecht" wird an der WIDE-Veranstaltung vom 12. März mit einem Fest in Bern aus der Taufe gehoben.
Widerspruch Nr. 62, 2013/1: Care, Krise und Geschlecht. 124 Seiten, CHF 25.00, Euro 18.00, ISBN 978-3-85869-0, ISSN 1420-0945.


8. März. Tag der Frau 2013

Frauen verdienen in der Schweiz 18,4 Prozent weniger als Männer. Sie müssen somit bis zum 7. März arbeiten, um für gleichwertige Arbeit denselben Lohn zu erhalten, den Männer schon am 31. Dezember in der Tasche haben. Rund um den 102. Internationalen Frauentag am 8. März setzen sich Frauen und Männer an verschiedenen Anlässen in Deutschland, Österreich und der Schweiz für mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ein.