Schon der dritte Wagen hält. Es ist ein alter Mercedes 123. Der Fahrer, ein freundlicher grauhaariger Herr, fährt in ruhigem Tempo gen Norden. Natürlich kann man auf die Kurische Nehrung, die „Kurschskaja Kosa“, wie sie auf Russisch heisst, auch mit einem Zuckelbus fahren, aber das dauert etwas länger. Also lieber das vergleichsweise billige Taxi.
Die Nehrung im Kaliningrader Gebiet wird von TouristInnen wegen ihrer Stille geschätzt. Auf der russischen Seite leben 1’500, auf der litauischen 4’000 Menschen. Nur im Sommer belebt sich die 98 Kilometer lange Landzunge. An einem heissen Tag passieren bis zu 6’000 Autos den russischen Kontrollposten in Selenogradsk, das bis 1946 Cranz hiess. Die Menschen zieht es an die Strände, und es gibt einiges zu besichtigen. So im russischen Teil der Nehrung die alte Vogelwarte in Rybatschi und die bis zu sechzig Meter hohen Dünen, im litauischen Nida locken das Bernsteinmuseum und das Haus des Schriftstellers Thomas Mann, das heute ein Museum ist. Der Mann am Steuer des Mercedes wohnt in Rybatschi, was so viel heisst wie Fischerdorf. Dort soll unsere Fahrt enden. Es ist eines von drei Dörfern auf der russischen Seite der Nehrung. Wie sich im Gespräch herausstellt, ist der Taxifahrer Igor Jakowlew der ehemalige Direktor der dortigen Fischereikolchose.

Illegale Villen
Was er von den Plänen des Gouverneurs halte, das Gebiet Kaliningrad zu einer Hochburg des Tourismus zu machen? Der ehemalige Direktor überlegt nicht lange: „Wir müssen zuerst das machen, was wir können, und dann das andere.“ Und was kann man hier? „Fischen und Schiffe bauen.“ Jakowlew, dessen Eltern aus Weissrussland kommen, weiss, wovon er spricht: Von 1997 bis 2007 leitete er die Kolchose. Mit dem Fischen haben sich die Familien auf der Kurischen Nehrung auch in schwersten Wirtschaftskrisen über Wasser gehalten. Aber vieles sei schon schiefgelaufen, sagt Jakowlew. Auf die „neuen Russen“, die Mitte der neunziger Jahre begannen, Grundstücke aufzukaufen, ist er nicht gut zu sprechen.

Auch Aleksandra Koroljowa, Sprecherin des Naturschutzparks, kritisiert den Ausverkauf der Nehrung. Die örtlichen VerwalterInnen hätten die Genehmigungen gegeben und seien dadurch reich geworden, sagt sie. Fünfzig illegale Villenbauten müssten demnächst vor Gericht verhandelt werden. Dass es möglich ist, den Massentourismus aufzubauen, wie es die Regierung in Moskau will, ohne die einzigartige Pflanzen- und Tierwelt zu schädigen, stellen die MitarbeiterInnen des Nationalparks infrage. Denn die Erfahrung mit anderen Tourismusprojekten zeigt, dass es nicht bei Fahrradfahrern und Wanderinnen bleibt. Noch ist die Nehrung eine fast unberührte Landzunge, doch schon jetzt kurven im Sommer die ersten Quads, vierrädrige Motorräder, über die Riesendünen, wo seltene Vögel wie der Königsadler brüten; in den Wäldern leben Elche und Wildschweine. Wo gibt es das noch in Europa?

Ungeklärte Abwässer
Allerdings müssen die EinwohnerInnen für diese Idylle auch einiges in Kauf nehmen. Im Zentrum von Rybatschi qualmt schwarzer Rauch aus dem Schornstein eines Heizkraftwerks, das den ganzen Ort versorgt. Trinkwasser holt man aus Brunnen, und die Elektrizität liefert das benachbarte Litauen. Die noch von den Deutschen gebauten Abwasseranlagen sind veraltet; ein Teil der Abwässer fliesst ungeklärt ins Haff. Von daher klingt das Vorhaben der Regierung, vier Tourismuszentren mit zweistöckigen Hotels und moderner Infrastruktur zu schaffen, für manche EinwohnerInnen verlockend. Vielleicht fällt auch etwas na Modernisierung für uns ab, hoffen sie.
Swetlana Slepenok ist Leiterin des Reisebüros Unona in Kaliningrad. auch sie hält nicht viel davon, im russischen Teil der Landzunge den Tourismus auszubauen. Denn schon jetzt sei sichtbar, dass die Veränderungen durch den Tourismus gravierend seien. „In Nida ist die Uferpromenade asphaltiert“, empört sie sich. Dabei könne man genauso gut auf nicht asphaltierten Böden parken, sagt sie. Ihr gefällt der russische Teil besser, dort sei noch alles naturbelassen, und das solle auch so bleiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Bevölkerung hier abgeschieden vom Weltgeschehen. Erst in den sechziger Jahren wurde es belebter, als die sowjetischen ArbeiterInnen die Nehrung als Urlaubsgebiet entdeckten.
Wie schon beim Olympia-Standort Sotschi ist die russische Regierung allerdings fest entschlossen, ihre Modernisierungsprojekte für die Kurische Nehrung und sieben andere ausgewählte Orte in ganz Russland durchzusetzen. Diese sollen internationales Niveau erreichen und die russische Provinz für den Massentourismus aus dem Westen erschliessen. Der Staat übernimmt die Kosten für den Ausbau der Infrastruktur, damit soll privaten InvestorInnen das Geschäft schmackhaft gemacht werden. Doch nachdem die ersten Pläne bekannt geworden waren, schlugen die ÖkologInnen die Hände über dem Kopf zusammen. So wollte eine deutsche Firma einen zwei Kilometer langen Pier ins Meer bauen. Ein „neues Dubai“, spotteten die UmweltschützerInnen – und konnten das Pierprojekt zusammen mit besorgten BürgerInnen zu Fall bringen. Offen ist jedoch, was aus den Plänen für ein Parkhaus mit sechzehn Etagen in Selenogradsk wird.

Beschränkte Reisefreiheit
Rybatschi ist immer noch ein Dorf aus alten Zeiten. Rot geklinkerte Fischerhäuser in deutschem Stil, davor riesige Stapel mit Holzscheiten und immer auch ein Hund, der Neuankömmlinge ankläfft. Nicht weit von Heizkraftwerk wohnt der heutige Direktor der Fischereikolchose, Nikolai Dari. 111 Leute habe er unter sich, sagt Dari, der in Rybatschi als Kind von ÜbersiedlerInnen aus der Sowjetunion geboren wurde. Die kleine Flotte von Rybatschi fischt im Haff. Dort gibt es nur Süsswasserfische: Barsche, Zander und Brassen. 380 Tonnen Fisch würden im Jahr nach Kaliningrad und St. Petersburg verkauft, berichtet der Direktor. Der Grossteil wird eingefroren, ein kleiner Teil geräuchert. Die Einkommen der Fischer und 

Arbeiterinnen sind bescheiden; sie verdienen zwischen 500 und 840 Franken im Monat. Dari ist jetzt auch in der Politik aktiv. Vor kurzem wurde er als Kandidat der Kreml-nahen Partei Einiges Russland in das Bezirksparlament gewählt. Sein Engagement scheint sich auszuzahlen: „Der Staat hilft und bei der Erneuerung unserer Ausrüstung mit Krediten.“ Das Dorf lebt jedoch nicht nur von den Fischen, sondern auch vom Tourismus.

Jeden Sommer kämen knapp fünfzig UrlauberInnen ins Dorf, erzählt Dari, der früher selbst Zimmer vermietet hat. Mit den Deutschen aus Thüringen und Berlin, die ihn jedes Jahr besuchen, hat er sich inzwischen sogar angefreundet.
Als es die Sowjetunion noch gab, war alles anders. Swetlana Slepenok, die Leiter des Reisebüros in Kaliningrad, kommt fast ins Schwärmen: „Wenn das Wetter gut war, konnte man morgens spontan ins Auto steigen und nach Nida [in Litauen] fahren.“ Nicht, dass sie sich diese Zeiten wieder zurückwünscht, aber was die Reisen nach Polen und Litauen betrifft, war das damals einfacher. Seit 2004 braucht man für die beiden Nachbarländer ein Schengen-Visum, das 46 Franken und Wartezeit kostet.
Nach dem Ende der Sowjetunion sei der Tourismus nach Litauen um achtzig Prozent gesunden, erzählt Slepenok. „Wohin man auch will, überall ist eine Grenze“, klagt sie. „Wir befinden uns heute praktisch in der Europäischen Union.“ Wer nach Russland fahren will, muss gleich zwei Granzen überwinden. Und für eine Zugfahrt ins russische Kernland braucht es ein Transitvisum. Die Einzigen, die konstant hin- und herreisten, seien die Geschäftsleute, sagt sie. Weil Kaliningrad eine Wirtschaftsonderzone sei und im Gebiet produzierte Waren zollfrei ausgeführt werden könnten, gebe es viele russisch-litauische Gemeinschaftsunternehmungen.
Eigentlich reisten die Kaliningrader sehr gern, erzählt die Chefin des Reisebüros. Litauen sei auch deshalb attraktiv, weil die Preise für Lebensmittel dort niedriger seien. Aber erst mal müsse man dort hinkommen. Wenn eine Familie mit drei Kindern das beliebte Delfinarium in Klaipeda besuchen wolle und dafür inklusive Visagebühren 8’000 Rubel (274 Franken) bezahlen müsse, dann sei das bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 15’000 Rubel eine grosse Auslage. Slepenok hofft, dass sich Russland und die EU irgendwann doch noch auf den visafreien Reiseverkehr für die Kaliningrader Bevölkerung einigen. Die Verhandlungen in dieser Frage endeten 2004 in einer Sackgasse.

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Freiwillige gegen das Meer
Die Stürme im Winter werden immer heftiger. Das sei heute die Hauptbedrohung für die Kurische Nehrung, erklärt Aleksandra Koroljowa vom lokalen Nationalpark. Die Auswirkungen des Klimawandels hätten für die Landzunge dramatische Folgen, denn wenn der Strand im Meer verschwinde, seien irgendwann auch die Dünen in Gefahr. Wenn nicht bald etwas passiere, könne die Nehrung irgendwann sogar ihre Landanbindung verlieren. Die Sorge ist verständlich: An einigen Stellen im Süden ist die Landzunge nur 350 Meter breit. Und weil die Ostsee seit zwölf Jahren im Winter nicht mehr zufriert, schlagen die Wellen bei Sturm ungebremst auf den Strand. Um die Erosionen zu verhindern, müsse man jetzt von der Ostsee aus mit Sandaufspülungen beginnen, sagt Koroljowa. Jedes Jahr müsse ausserdem neu an der Befestigung der Dünen gearbeitet werden. dabei unterstützten Freiwillige die knapp hundert MitarbeiterInnen des Nationalparks. Extra für die Dünenbefestigung gezogene Fichten werden im Sand vergraben und miteinander verflochten. Ohne die Hilfe der Freiwilligen wäre diese Arbeit nicht zu schaffen, sagt Koroljowa. Dafür habe der Nationalpark schon zweimal ein litauisch-russisches Jugendlager organisiert.
Der Beitrag erschien in der Wochenzeitung vom 09.09.2010. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Weitere interessante Beiträge finden Sie auch auf www.woz.ch ;