Service inbegriffen – oder doch nicht?
Basel, 03.06.2010, akte/ Trinkgeld ist an sich eine freiwillige Gabe zur Belohnung eines guten Services – für Restaurant- und Hotelangestellte, Fahrer und Tourguides unterwegs, für den Klempner, Kaminfeger oder Briefträger zu Hause. Doch wo ist wie viel angebracht? Schliesslich will man sich ja nicht blamieren.
Die Reiseratgeber sind sich in Sachen Trinkgeld einig: Es gibt kein globales Patentrezept, aber merklich unterschiedliche Trinkgeld-Gepflogenheiten rund um den Globus. In Amerika ist "Tipping" ein Muss: Im Gastgewerbe sind bis zu 20 Prozent üblich – auch für den Pizzaservice, rät das Globetrotter-Magazin unter Berufung auf eigene Experten und Reiseknigges im Web. Weiter erhalten Kofferträger 1 bis 2 Dollar pro Gepäckstück, Zimmermädchen 1 bis 2 Dollar pro Tag, und Taxifahrer erwarten 15 Prozent des Fahrpreises. In China und Japan hingegen sind Trinkgelder eher unüblich, wobei sich Serviceangestellte und Taxidriver auch über einen Obolus freuen. In Europa sind an den meisten Orten 10 bis 15 Prozent angebracht – allenfalls ein Aufrunden der Rechnung, wo "Service charge" bereits explizit enthalten ist.
Genau hier wird die Handhabung von Trinkgeld erst so richtig interessant: Wo der Service inbegriffen ist – wie etwa in der Schweiz – müsste man doch eigentlich gar nichts mehr geben. Warum gibt man denn trotzdem freiwillig Trinkgeld? Dieser spannenden Frage geht Winfried Speitkamp in seiner kleinen Kulturgeschichte des Trinkgelds "Der Rest ist für Sie!" nach. Dieser "Rest" – das macht er gleich zu Beginn klar – ist nicht "Peanuts": In den USA, wo Trinkgeld verbindlicher, aber formal noch immer freiwillig ist, wird das Aufkommen an Trinkgeldern allein in Restaurants auf 21 Milliarden Dollar geschätzt. Jährlich! Speitkamps historische Ausführungen zeigen auf unterhaltsame Weise, wie während der letzten gut zwei Jahrhunderte in Europa um das Trinkgeld gestritten wurde: Als wesentlicher Bestandteil des Lohnes, wenn nicht als Lohn überhaupt für ausgebeutete Bedienstete begründen BefürworterInnen das Trinkgeld – ein Argument, das für viele Tourismusangestellte weltweit nach wie vor akuten Bestand hat. Eine Demütigung für Dienstleistende, argumentieren demgegenüber Trinkgeld-GegnerInnen und wittern gar Bestechung und Korruption – auch das kann natürlich zutreffen, wo Trinkgeld, schon fast wie heutzutage Boni für Banker, als fest zu erwartende Belohnung gehandhabt wird. Interessant am Trinkgeld ist jedoch, dass es üblicherweise erst nach erbrachter Dienstleistung vom Nutzniesser nach dessen Gutdünken freiwillig entrichtet wird. So honorieren Gäste gerade auf Reisen mit Trinkgeldern bereits geleisteten Service, ohne sich damit einen künftigen Nutzen zu sichern, ausser sie kehren regelmässig ins selbe Etablissement zurück. Trinkgeldgepflogenheiten haben sich im Lauf der Zeit verändert und wurden vielerorts gesetzlichen Regelungen unterstellt. So ist in der Schweiz längst der "Service inbegriffen" und dennoch geben viele weiter Trinkgeld.
Gerade im globalisierten Reiseverkehr entstand aus diesem Stück Kulturgeschichte der Industrieländer eine – wie Speitkamp sagt – "Topographie" des Trinkgeldes, bei der sich die globale Trinkgeldlandschaft allenfalls durch die Höhe der zu zahlenden Beiträge auflockert. Das drückt sich in Reiseknigges jeweils pauschal für einzelne Länder oder gar ganze Kontinente pragmatisch in Prozenten auf der zu bezahlenden Rechnung an Bedienungspersonal, Guides und Fahrer aus (siehe oben). Dabei stehen die Trinkgeld-Tipps üblicherweise in Form von "Benimm-Regeln" für Reisende gleich neben den Ratschlägen für Kleidung, Sonnen- und Mückenschutz und inmitten der allgemeinen Reiseinformationen über Einreiseformalitäten, Währungskurse oder etwa Geschäftsöffnungszeiten und Feiertage im Reiseland. Weit weg also vom sozialen und kulturellen Kontext des Reiselandes und noch weiter weg von der individuellen Situation von Bediensteten, deren Leistungen unter Umständen so schlecht abgegolten werden, dass sie existenziell auf Trinkgelder angewiesen sind.
Trinkgeld geben ist, wie Speitkamp erläutert, nicht einfach nur eine Geste der Dankbarkeit für einen guten Service. Möchte man diesen sicher kriegen, müsste man ja Trinkgeld im Voraus entrichten. Vielmehr weist sich derjenige, der weiss, wo wem wie viel Trinkgeld zu geben ist, als kundiger und weltgewandter Reisender aus. Mehr noch: Trinkgeld geben zu können, verweist auf den eigenen privilegierten Status. Neue Feldstudien etwa aus Australien geben Speitkamp Recht: Reisende geben eindeutig mehr Trinkgeld, wenn sie sich von Mitreisenden beobachtet fühlen.
Wer aber jemals auf der andern Seite der touristischen "Trinkgeld-Topographie" gelebt hat, weiss, wie wichtig es gerade im Tourismus und im Gastgewerbe ist, das magere Einkommen mit "Tips" aufbessern zu können. Gewusst wie, sagt Michael Lynn, ausserordentlicher Professor für Konsumverhalten an der Cornell’s School of Hotel Administration, der seine Karriere mit Kellnerjobs stets auf der Suche nach dem besten Trinkgeld begonnen hat. Seine Trinkgeldforschung zeigt: Die Höhe des Trinkgelds sagt an sich wenig aus über die effektive Zufriedenheit der Kundschaft mit der Bedienung oder der Qualität des servierten Essens. Vielmehr wird sie durch die Kommunikation des Serviceleistenden mit der Kundschaft bestimmt: Persönliche Aufmerksamkeit, vielleicht schon mal ein fast familiäres Berühren der Schulter des Gasts bei der Beratung, auf jeden Fall die namentliche Bedankung beim Rechnungsbezahler, dessen Name von der Kreditkarte zu erfahren ist – das garantiert Lynn zufolge ein höheres Trinkgeld. Nun ja, die einen Kunden werden allein davon schon abgeschreckt, andere mögen sich erst durch solch offenkundige Aufmerksamkeiten der Bedienung zu grosszügigerem Trinkgeld verleiten lassen. Hauptsache, die Chemie stimmt zwischen Servicepersonal und Kundschaft. Diese Balance in den flüchtigen persönlichen Beziehungen zu schaffen, bleibt die hohe Kunst der Dienstleistenden.
Winfried Speitkamp: Der Rest ist für Sie!, Reclam 2008, 169 Seiten, CHF 14.90, Euro 7,90, ISBN 978-3-15-020170-1
Michael Lynn researches tipping behaviour
www.news.cornell.edu/chronicle/00/8.17.00/Lynn-tipping.html
Trinkgeld-Knigges für Reisende:
Globetrotter-Magazin Frühling 2010, www.globetrotter.ch/magazin
im Web zum Beispiel auf: www.urlaub-im-web.de/trinkgelder-ausland.html
sowie in jedem guten Reiseführer