Tangram Nr. 27 zum politischen Diskurs in der Schweiz
Basel, 15.08.2011, akte/ Noch ist der Schock über die Bluttat von Anders Behring Breivik nicht überwunden. Ein von rechtsextremem und islamfeindlichem Gedankengut Besessener erschoss am 22. Juli in Utǿya/Norwegen kaltblütig 77 Mitbürger, weil sie eine andere politische Meinung vertraten. Auch in der Schweiz stellt sich die Frage nach der Anfälligkeit für solche Angriffe auf Leib und Leben von Menschen, die anders denken oder anders sind. Die Lektüre der aktuellen Ausgabe von TANGRAM, dem Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), lässt nichts Gutes erahnen.
Die Schweiz figuriert bei der dritten Auflage des "Migrant International Policy Index" auf dem zweitletzten Rang von 31 analysierten Ländern. Dieser Länderindex vergleicht den rechtlichen Rahmen für Integration in allen Ländern der Europäischen Union, Kanada, den USA, Norwegen und der Schweiz. Besonders schlecht steht die Schweiz beim rechtlichen Schutz gegen Diskriminierung da. Und das scheint kein Zufall: Der Historiker Georg Kreis stellt mit Besorgnis fest, dass in den politischen Auseinandersetzungen der Schweiz immer mehr ein "Wir" gegenüber den "Anderen" konstruiert wird. Die "Anderen" können die eigene Regierung, das Parlament, die "Linken und Netten" oder eben die Ausländer sein. So werde jeder gegen jeden aufgehetzt. Während die meisten im Alltag keine unmittelbaren Folgen spürten, sei diese Stimmungsmache für Menschen, die anders sind oder anders scheinen, fatal.
Für die Zunahme des Rassismus in der Schweiz – Symptome dafür sind die Annahme der Volksinitiativen "gegen den Bau von Minaretten" und "für die Ausschaffung krimineller Ausländer" – sind aber in der Schweiz nicht nur die Rechtspopulisten verantwortlich. Auch die breite Öffentlichkeit und die Politiker der meisten Parteien machen mit. Die Rechtspopulisten verschieben die Grenzen dessen, was von der breiten Öffentlichkeit noch als ethisch verträgliche "gemässigte" Lösungen akzeptiert wird, immer weiter weg von den Grundsätzen der Menschenrechte und immer weiter ins rassistische Terrain. Diesen Prozess legt Philippe Gottraux dar, der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter am wissenschaftlichen Institut für politische und internationale Studien des Centre d’études sur l’action politique (CRAPUL) der Universität Lausanne.
Die Schweiz braucht eine umfassende Diskriminierungsgesetzgebung. Bislang sind die Durchsetzungsmechanismen schwach und die Gleichstellungsstellen mit ungenügenden Kompetenzen ausgestattet. Hierzu hat die EKR letztes Jahr zehn aufeinander abgestimmte Empfehlungen erarbeitet. Damit diese Empfehlungen eine Chance haben, braucht es in der Schweiz dringend mehr Sensibilisierung für Rassismus – gerade auch in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung. Das aktuelle Tangram liefert dazu mit seinen Analysen und Hintergründen wertvolle Dienste.
TANGRAM Nr. 27: Politischer Diskurs. Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR, Juni 2011, 128 Seiten auf Deutsch, Italienisch und Französisch. Gratis erhältlich bei: Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR, GS-EDI, CH-3003 Bern, Tel. +41 (0)31 324 12 93, Fax +41 (0)31 322 44 37, ekr-cfr@gs-edi.admin.ch; www.ekr.admin.ch